GASTKOMMENTAR: Gewaltverzug oder -verzicht?
■ Die deutsche Demokratie sollte souverän die Geschichte des Terrors zuende bringen
Wie man's nimmt, wie man's liest. Wenn der RAF-Brief echt ist, dann gibt es zwei Arten, ihn zu lesen: Als Eingeständnis des schrecklichen Irrwegs, an dessen Ende diese Leute gekommen sind. Wer ihn so liest, muß trotz der ohnmächtigen Droh-Gebärdensprache dieses Textes sagen, da sei eine Chance, die der Staat nutzen muß. Aber der Text ist so verfaßt, daß er auch die andere Lesart provoziert — kein Eingeständnis, sondern eine zwischenzeitliche Erpressung: jetzt wollen wir das und jenes (Freilassung, Hafenstraßen-Garantie etc.), und wenn wir das nicht bekommen („wenn sie uns nicht leben lassen“) dann „müssen sie wissen, daß ihre Eliten auch nicht leben können“.
Die Entscheidung, wie dieser Brief gelesen wird, ist keine Seminarübung für vorwitzige Textexegeten: Es ist auch die Entscheidung des demokratischen Staates, wie er jene Seiten des Geschichtsbuches liest, die die letzten zwanzig Jahre beschreiben. Es ist aber auch für die Meinhof-Romantiker, die die Stasi-Connection noch nicht verdaut haben, ein Signal zum Genaulesen, und zur eigenen, sehr individuellen Entscheidung, wie mit diesem Brief umgegangen wird. Genau gelesen ist er ja zunächst mehr ein Gewaltverzug als ein Gewaltverzicht. Ich bin für die erste Lesart! Parlament und Regierung sollten den behutsamen Signalen des Justizministers folgen. Aus vier Gründen sollten wir alle die Chance dieses Gewaltverzichts ernst nehmen:
Es darf keine Nachfolgeromantik in der neuen Bundesrepublik überleben! Das Eingeständnis des Irrwegs (nicht der mörderischen Schuld!) muß
genutzt werden. Leider wiegt das Eingeständnis
des Irrtums oft schwerer als die Erkenntnis der
Schuld.
Noch immer sehen sich Terroristen in Westeuropa, in Irland und im Land der Basken, in einer familiären Nähe zur RAF. Ihr ideologisches Ende darf jetzt vom Staat nicht verpaßt und verpatzt werden. Es könnte sein, daß auch der spanische oder der britische Staat eines Tages sehr genau werden hinsehen müssen, wie die stabile deutsche Demokratie mit diesem Schluß-Signal umgegangen ist.
In Lateinamerika (damals unmittelbare Anstoßregion für die deutschen Rotarmisten) finden vielfältige Prozesse statt, die Geschichte des Terrors zu beenden. Auch wir dürfen da nicht härter sein, als es die oft klügere Polizei etwa im BKA erlaubt. Wir sind nicht allein auf der Welt.
Die schwachen neuen Staaten Osteuropas werden nicht ausschließen können, daß manche Jungen dort den alten Traum vom reinigenden Terror träumen. Waffen und wilde Ideologien sind genug vorhanden. Daß die deutsche Demokratie klug und souverän die Geschichte des Terros zu Ende bringen konnte — vielleicht ein löschendes Minisignal für die zündelnde Welt von morgen. Freimut Duve
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