: Freie Fahrt für Pixcees nach Athen Von Ralf Sotscheck
Sie vermehren sich in England neuerdings wie die Karnickel. Man trifft sie ausschließlich auf Bahnhöfen an, jedoch niemals in den Zügen: die Pixcees. Dabei handelt es sich nicht um enge Verwandte der Pixies, der niedlichen Märchenfiguren, sondern um „passengers in excess of capacity“ – überschüssige Passagiere. Oder gestrandete Kunden, wie es im Nach- Privatisierungs-Englisch heißt.
Nachdem nun auch die letzte Strecke des Staatsunternehmens British Rail verscherbelt worden ist, hat die Stillegungsphase begonnen: Weniger rentable Strecken werden eingemottet, die Abteile werden immer voller, und manchmal streicht man einen Zug erst in letzter Sekunde. Neulich im Londoner Bahnhof Waterloo mußten wir dreimal aus abfahrbereiten Zügen wieder aussteigen und wurden von einem Bahnsteig zum anderen kommandiert. Dabei werden die Ausreden immer phantasieloser. Hatte das Staatsunternehmen British Rail noch von „der falschen Sorte Schnee auf den Gleisen“ gesprochen, so heißt es bei der privaten Connex South Eastern, die Schaltkreise von 16 Lokomotiven seien eingefroren. Deshalb müsse man die wenigen Züge, die noch übrig seien, strategisch einsetzen – also so viele Menschen wie möglich hineinpferchen. Jedem Fahrgast stehen „0,55 Quadratmeter Raum“ zu, heißt es in den Richtlinien der Aufsichtsbehörde. Bei weniger Bewegungsfreiheit muß das Bahnunternehmen Strafe zahlen. Da nützt auch der Hinweis des französischen Unternehmens Connex nichts, daß Franzosen im allgemeinen schlanker seien als die Briten, denn in Südostengland überwiegt nun mal die Zahl der englischen Passagiere. Und die brauchen eben gut einen halben Quadratmeter Platz.
Bei South West Trains (SWT), die unter anderem von Waterloo nach Exeter fahren, ist es gang und gäbe, daß sich die Kundschaft in die Kofferablage hineinquetscht, um mitgenommen zu werden. SWT, eigentlich ein Busunternehmen, hatte im Januar eine gute Idee zur Kostensenkung: Man entließ 70 Lokomotivführer. Dann fand man heraus, daß es zuwenig Personal für die furchtbar vielen Lokomotiven gab. Und niemand kannte die Strecken, auf denen die entlassenen Kollegen gefahren waren. Also mußte das Restpersonal die Schulbank drücken und sich die Kurven und Signalgebung dieser Bahnlinien einprägen. Was zur Folge hatte, daß unterdessen weitere Züge ausfielen. Um die Kundschaft zu beruhigen, versprach das SWT-Management jedem Passagier eine Freifahrt nach Wunsch. Die meisten Fahrgäste wünschten sich Athen oder Paris, so daß die Werbeaktion zur Versüßung der Sparmaßnahmen am Ende mehr als drei Millionen Mark kostete.
Fortan machte man die Züge ein bißchen kürzer, um einen Teil des verpulverten Geldes wieder hereinzuholen. Doch ein Computer alarmiert in solchen Fällen automatisch die Aufsichtsbehörde. Und wieder waren saftige Strafen fällig. Dann fielen auch noch die Signale in Teilen Südenglands aus. Angestellte von Connex South Eastern und von SWT mußten jedesmal mit grünen Fähnchen winken, wenn ein Zug vorbeikam. So ist man bald wieder auf dem Stand von 1829, als Stephensons legendäre „Rocket“ die Schienen beherrschte: Damals mußte ein Mann vor dem Zug hergehen und eine rote Fahne schwenken.
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