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Archiv-Artikel

FRANKREICH: IMMER TIEFERE RISSE IM ANTIFASCHISTISCHEN SELBSTBILD Staatsinstitution wollte Judenverfolgung

Der Richterspruch von Toulouse, mit dem die französische Eisenbahngesellschaft SNCF wegen ihres Transports von Juden im Jahr 1944 jetzt zu Schadenersatz an die Erben der Opfer verurteilt wurde, bezeichnet eine historische Wegmarke. Erstmals wurde eine französische Staatsinstitution als Helfershelfer des Judenmords festgenagelt.

Der SNCF half die Einrede der Verjährung nichts. Denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjähren nicht, und sie können, so das Gericht, auch vorliegen, wenn die Täter tot, aber ihre Institution, die SNCF, weiter lebendig ist. Auch das Argument, die SNCF habe nur auf Befehl der Vichy-Regierung bzw. der Deutschen gehandelt und somit keinerlei Tatherrschaft ausgeübt, wurde anhand der Fakten widerlegt. Womit einer der hauptsächlichen Entschuldigungsgründe für die Beteiligung an den Mordaktionen gegen die Juden in sich zusammenfällt. Dieses Element des Urteils hat grundlegende politische Bedeutung, legt es doch die Elle des Handlungsspielraums an die Mittäterschaft, in diesem Fall an die Beihilfe zu Verbrechen, an.

Als Marcel Ophüls im Jahre 1969 seine große Filmdokumentation „Le Chagrin et la pitié“ zur Kollaboration vieler Franzosen mit den Nazi-Besatzern vorstellte, brach in Frankreich ein Sturm der Entrüstung los. Der Film wurde verboten, sein Autor verfemt. Doch seit den 90er-Jahren bekommt das heroische Selbstbild vom Widerstand (fast) aller Franzosen gegen die Okkupanten immer mehr Risse. Strafverfahren belegten, wie weit die Kollaboration nicht nur des Vichy-Regimes, sondern auch vieler Bürger mit den Deutschen ging. Und es war Präsident Chirac, der schließlich 1995 von der „unauslöschlichen Schuld“ Frankreichs bei der Judenverfolgung sprach.

Aber: Jeder kehre vor seiner eigenen Tür. Die späte Selbstbefragung zur Beteiligung am Judenmord, die in Westeuropa unterwegs ist und Osteuropa noch bevorsteht, darf keinesfalls zur Entlastung der deutschen Öffentlichkeit dienen. Zu nahe sind noch die Abwehrargumente und Pseudo-Rechtfertigungen bei uns anlässlich der Entschädigung der Zwangsarbeiter. CHRISTIAN SEMLER