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Archiv-Artikel

FRAGWÜRDIGE SKEPSIS HINSICHTLICH DER ARABISCHEN REVOLTEN Durch Wut und Fantasie reif für die Demokratie

Knapp überm Boulevard

ISOLDE CHARIM

Die Skepsis mancher Zuschauer der arabischen Revolten, vornehmlich der ägyptischen, äußert sich in dem Satz: Diese Länder seien „nicht reif für die Demokratie“. Aber was heißt das eigentlich: Wann ist man reif dafür? Worin besteht diese Reife? Und: Wer muss eigentlich reif für sie sein, für die Demokratie?

Wenn die Gesellschaft damit gemeint ist, dann hieße dies: Die Gesellschaft muss Institutionen haben, Parteien, Gewerkschaften, eine entwickelte Zivilgesellschaft, eine gebildete Mittelschicht, denn das sind die Träger der Demokratie. Klar, aber darauf beschränkt sich der Vorwurf einer mangelnden „Demokratiereife“ nicht. Dieser ist grundlegender: Er zielt nicht auf den politischen, sondern auf den kulturellen „Entwicklungsstand“ einer Gesellschaft. Und da sind wir von den Institutionen ganz schnell beim Einzelnen angelangt. Wie aber muss dieser Einzelne beschaffen sein, um „demokratiereif“ zu sein: Vernünftig, autonom? Vereinzelt? Säkularisiert? Unterm Diktat des Triebaufschubs? Wovon ist Demokratie getragen – von tugendhaften, sittlichen Subjekten? Es war Kant, der meinte, ein Rechtsstaat solle in der Lage sein, auch für „ein Volk von Teufeln“ eine Republik zu errichten. Das heißt, eine freiheitliche Gesellschaftsordnung wird nicht von der Sittlichkeit oder der Kultur ihrer Bürger getragen, sondern von Strukturen, die das Zusammenleben unabhängig davon regeln. Das ist gewissermaßen das andere Extrem zur Vorstellung einer „Demokratiereife“.

Der Vorwurf, ein Volk sei nicht reif für die Demokratie, geht aber noch weiter. Er verlangt nicht nur, spezifische Tugenden, er verlangt auch, dass diese Tugenden der Demokratie vorausgehen müssen. Die Leute müssen also schon demokratische Subjekte sein, bevor sie sich dazu aufmachen, nach Demokratie zu rufen. Wo aber werden sie zu solch demokratischen Subjekten? Damit die Reife der Demokratie vorausgehen kann, muss sie anderswo bereits hergestellt worden sein. Wir kennen diesen Diskurs, der dem Politischen abspricht, autonom zu funktionieren; dieser Diskurs, der die Kultur, vor allem aber die Religion zur eigentlichen Grundlage einer Gesellschaftsordnung macht. Sein Credo ist das vielzitierte Böckenförde-Diktum, wonach „der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen“ lebe, „die er selbst nicht garantieren“ könne. Demnach werde auch eine säkulare Ordnung von Moral und letztlich vom Glauben getragen. Das Politische alleine reiche dafür nicht aus. Eine freiheitliche Gesellschaftsordnung brauche präpolitische Quellen, Quellen wie Kultur, Religion oder Traditionen. „Demokratiereife“ heißt also, die Menschen müssen präpolitisch gebildet werden, damit die solcherart „gereiften“ Individuen als solche, als reife, in den politischen Prozess einer Demokratisierung eintreten können.

Das ägyptische Beispiel hat jedoch gezeigt: Der politische Prozess braucht keine vorpolitischen Ressourcen. Er braucht als Initialzündung Wut – also Emotion – und politische Fantasie, also die Vorstellung von etwas anderem als den gegebenen Verhältnissen. Wir wissen, wie der Name für diese politische Fantasie in den arabischen Ländern heute lautet: Internet. Dieses hat deren Möglichkeitssinn eröffnet. Selbst Mut ist nicht etwas, was schon da sein muss, sondern etwas, das im Sog eines politischen Prozesses entstehen kann. Die Demonstranten haben sich vielleicht zwei Wochen vorher nicht träumen lassen, solch einen Mut aufzubringen. Kurzum – der politische Prozess einer Demokratisierung braucht in solchen Situationen keine ihm vorausgehenden Tugenden. Wir sind vielmehr Zeugen geworden, wie solche Eigenschaften im politischen Prozess selbst entstehen. Sinnbild dafür wurde, das – von allen Kommentatoren immer wieder betonte – Putzen des Tahrir-Platzes. Die Reife muss der Demokratie offenbar nicht vorausgehen. Sie kann auch aus dieser folgen. So wie ja auch offen bleibt, ob Kants „Volk von Teufeln“ sich im Rechtsstaat nicht wandelt und „reift“, also zu einem Volk von Engeln wird – wie es ja alle entwickelten Demokratien bevölkert.