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Archiv-Artikel

■ Erste Reaktionen zum Götz-Aly-Interview NS-Staat war ein Klassenstaat

betr.: „Der Holocaust geschah zum Vorteil aller Deutschen“, taz vom 15. 1. 05

Götz Aly hat sich zweifellos große Verdienste um die Erforschung des NS-Systems und des Holocausts erworben, die von der etablierten Geschichtswissenschaft nur selten honoriert werden. Umso unverständlicher sind die Aussagen des neuen Buches zu den Arisierungen.

Natürlich stimmt es, dass ein Großteil der als „arisch“ definierten Bevölkerung von den Arisierungen profitiert hat und dies bis heute nicht einsehen will, natürlich war die Zustimmung zum System bis 1941 überwältigend und auch bis Kriegsende noch dominierend – aber das ist schon lange kein Tabu mehr, sondern wissenschaftlicher Konsens. Ist auch die Verantwortung des ganz normalen Deutschen in den letzten Jahren durch die Forschung (z. B. Christopher Browning) sehr gut herausgearbeitet worden, so sollte Aly aber doch bitte schön die Relationen im Auge behalten, denn wie kann er die Butterpakete des gewöhnlichen Soldaten mit den Gewinnen vergleichen, die Herren wie Flick oder Krupp (um nur die prominentesten Namen zu nennen) durch die rücksichtslose Ausbeutung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern verdient haben. Ganz im Gegensatz zu Alys Auffassung war der NS-Staat und damit die „nationale Volksgemeinschaft“ eben kein „nationaler Sozialismus“, sondern weiterhin ein Klassenstaat, in dem sich die herrschende Klasse deutlich mehr aneignete als die unteren. Dass auch Brotkrumen an diese abfielen, ist selbstverständlich und dient natürlich der Herrschaftssicherung.

Im Übrigen liegt die Hauptursache für die gute Versorgung mit Lebensmitteln der deutschen Bevölkerung nicht an der Ermordung der Juden, sondern an der hemmungslosen Ausplünderung der besetzten Gebiete im Westen und vor allem im Osten, unter der vor allem die slawische Bevölkerung zu leiden hatte, die vielfach dem Hungertod ausgeliefert wurde, wie die Studien von Christian Gerlach belegen. Möchte Aly die Hauptnutznießer der Arisierungen und Zwangsarbeit etwa exkulpieren und damit dem historischen Rollback, der leider festzustellen ist, Wasser auf die Mühlen kippen? Das kann und will ich mir nicht vorstellen, doch ist der Effekt ganz offensichtlich.

Vollkommen ärgerlich wird Alys Argumentation im Übrigen dort, wo er die Arisierungen als Motiv des Holocausts sieht und nicht als ihre Begleiterscheinung und Folge. Die Ursachen des Völkermordes liegen viel tiefer und komplexer, hier fällt Aly hinter die Forschungen der letzten zehn Jahre zurück. Ich kann nicht verstehen, warum die taz so einem Buch so einen breiten Raum einräumt, ohne auf die offensichtlichen Schwächen einzugehen. Aber anscheinend genügt heutzutage doch ein reißerisches Thema, das angebliche Tabus zerstören will, um auf die Titelseite zu gelangen.

ALEXANDER NEUMANN, Freiburg

Abenteuerlich sind die Lehren, die – implizit – Herr Aly aus der deutschen Geschichte zieht. „Umverteilungspolitik belohnen die Deutschen (…) gerne.“ Es gebe hinsichtlich der Ziele (nicht in den Mitteln) eine Kontinuität in der Politik des Nationalsozialismus und danach: „Umverteilung“, „Soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit“. Aber: „Demokraten können umsteuern“, Diktaturen wie diejenigen von Honecker und Hitler nicht. Nämlich den Sozialstaat zurückfahren. Wohin? Vor Bismarck? In den Zustand der Dritten Welt, denn alles andere wäre – in der Sichtweise Herrn Alys – Ausbeutung „von Teilen dieser Dritten Welt“ oder ginge „zur Lasten der nächsten Generationen“.

Die Frage muss hier erlaubt sein: Aus welcher Theorie oder welchen empirischen Daten schöpft Herr Aly wohl die Erkenntnis, dass den Menschen in der Dritten Welt nur geholfen werden kann durch Verelendung in der Ersten? Dient das durch Sozialdumping Ersparte wirklich der Lebenssicherung der nächsten Generation? Es scheint, als hätte Herr Aly die aktuellen Daten zur Verteilung des Mehrprodukts in der globalisierten Welt geflissentlich überblättert – in seinem Eifer, Fronten aufzubauen zwischen Völkern und Generationen, Korrumpierten und Betrogenen. Um schließlich den Prozess der kapitalistischen Wertschöpfung in einem Dunst von personifizierten Schuldzuweisungen verschwinden zu lassen. Das wiederum wäre nichts Neues.

Vielleicht hat Herr Aly doch Recht: Die „Umverteilungspolitik“ geht „zu Lasten der nächsten Generationen“. Nicht diejenige, die er meint. Schon heute leben 15 bis 20 Prozent unserer Kinder und Jugendlichen unterhalb der Armutsgrenze. Tendenz steigend. Unterstützen wir Hartz IV. Nur so sind wir echte Demokraten und haben aus der Geschichte gelernt. ERNST HILMER, Griesheim

Zunächst das Kompliment: Ich empfinde das Interview als sehr interessant und nachdenkenswert. Danke.

Nun die Kritik: Die Überschrift (das Zitat) ist inhaltlich falsch. Es muss in aller Klarheit gesagt werden: Die Jüdinnen und Juden, um die es in dem vorliegenden Artikel in weiten Teilen geht, waren im Normalfall Deutsche! Sie waren „jüdische Deutsche“ (wie es eben auch christliche Deutsche gab), „deutsche Juden“, „Juden mit deutscher Staatsbürgerschaft“. Und diese Juden empfanden den Holocaust mit Sicherheit nicht als Vorteil.

An dieser Stelle wird „deutsch“ unhinterfragt in dem Sinne übernommen, wie die Nazis Deutschsein definiert haben, also eher in ihrem rassischen statt staatsbürgerlichen Sinne. Nun taucht das Problem auf, welche Bezeichnung denn nun korrekt ist. Das ist schwierig, aber meines Erachtens passt der von den Nazis, wenn auch nur vage definierte Begriff „Volksgemeinschaft“ (aber mit dicken Anführungszeichen) am besten. Denn dieser Begriff meint eine Rasse- und Weltanschauungsgemeinschaft im nationalsozialistischen Sinne. Deutsche wie die Deutschen jüdischen Glaubens, aber auch deutsche Kommunisten, Demokraten, Widerstandskämpfer, sicherlich auch deutsche Homosexuelle, gehörten nicht dazu. Und all diese Deutschen haben meines Erachtens im Normalfall auch nicht vom Holocaust profitiert, da sie selbst um ihr Leben bangen mussten.

CLAUDIA HARTMANN, Berlin

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