: Einheit, Einheit über alles: Die Nation wurde befeiert
■ Schönredner versprechen blühende Zukunft
Bonn (AP/taz) – Je düsterer die Stimmung, um so optimistischer die Reden zum Nationalfeiertag. „Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme werden wir meistern“, verkündete Bundeskanzler Helmut Kohl gestern abend in einer Fernsehansprache. Allerdings werde dies länger dauern und mehr kosten, als die meisten und er selbst angenommen hätten. „Die Einheit unseres Vaterlandes ist ein Geschenk, für das wir von Herzen dankbar sind. Sie ist vor allem eine Chance für uns alle“, sagte Kohl. Die Zukunftschancen seien gut. „Wir haben Grund zur Zuversicht, und wir können nach vorne blicken.“ Die deutsche Wirtschaft sei überhaupt nicht schlechter geworden. Jedoch andere in der Welt seien besser als früher. Deshalb seien in Wirtschaft und Gesellschaft Korrekturen dringend notwenig.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte bereits am Samstag abend in einer TV-Ansprache eine „langfristige und konzertierte Anstrengung“ im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit gefordert. Der „dankbaren Freude“ über die Wiedervereinigung vor drei Jahren sei nun eine „Phase der Ernüchterung“ gefolgt. Im Westen sei die Einsicht gewachsen, „daß die Einheit Opfer und Solidarität erfordert“, so der Bundespräsident. „Zugleich aber erkennen wir, daß die Krise, mit der wir es zu tun haben, in ihrem Kern gar nicht die Folge der Einheit ist.“ Diese habe nur den „längst überfälligen“ Strukturwandel beschleunigt, der zu Lasten von Arbeitsplätzen gehe. „Arbeitslosigkeit ist nicht nur eine zentrale ostdeutsche Sorge, sie wird jetzt überall zu unserer größten Herausforderung.“
Während sich die Spitzen der deutschen Politik zur offiziellen Feier im äußersten Westen, in Saarbrücken, versammelten, protestieren auf dem Alexanderplatz in Ostberlin mehr als 5.000 Menschen gegen die Verelendung des Ostens. Der Vorsitzende der PDS-Bundestagsgruppe, Gregor Gysi, rief zum Widerstand gegen die sozial ungerechte Politik der Bundesregierung auf: „Wir brauchen mehr Demokratie und mehr soziale Gerechtigkeit.“ Seite 2
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