Ein neuer Paradigmenwechsel: Weder rechts noch links

Wir sind in einer ökonomischen, kulturellen und ökologischen Überdynamisierungskrise. Die Antwort darauf ist ein Liberalismus, der alle drei Krisen reguliert.

Bild: Karsten Petrat

Von ANDREAS RECKWITZ

Die Unterscheidung zwischen ›links‹ und ›rechts‹ im Feld des Politischen hat sich seit der Französischen Revolution eingebürgert und dient bis heute dazu, sich in der politischen Landschaft zu orientieren. Allein: Um die politische Geschichte der westlichen Gesellschaften seit 1945 und die Herausforderungen der Gegenwart zu begreifen, hilft uns diese Unterscheidung nur bedingt weiter. Mein Ausgangspunkt ist vielmehr ein anderer: Die wirklich tief greifenden politischen Transformationen waren und sind grundsätzlicher angelegt und verlaufen quer zur Links-rechts-Unterscheidung.

Die eigentlich wichtige Unterscheidung, um das politische Handeln der letzten Jahrzehnte zu verstehen, ist also nicht die zwischen rechter und linker Politik, sondern zwischen Regulierungs- und Dynamisierungsparadigma.

So wie Thomas S. Kuhn von wissenschaftlichen Paradigmen spricht, so gibt es auch im politischen Feld politische Paradigmen und Paradigmenwechsel. Ein politisches Paradigma ist ein allgemeiner Rahmen, wie die politische Gestaltung des Gesellschaftlichen zu denken ist; und es umfasst zu einem jeweiligen Zeitpunkt typischerweise das ganze politische Spektrum von Mitte-links bis Mitte-rechts. Wenn es einmal etabliert ist, kann es jahrzehntelang wirken, scheinbar alternativlos. Ein Paradigmenwechsel ist dann eine tief greifende Transformation, denn er betrifft den Wandel der Vorstellung von gesellschaftlicher Ordnung und politischer Gestaltung insgesamt – von links bis rechts.

Betrachtet man die politische Entwicklung aus größerer Distanz, zeigt sich, dass seit Mitte des 20. Jahrhunderts bisher lediglich zwei große politische Paradigmen aufeinander folgten – und, dass wir uns gegenwärtig offenbar mitten in der Phase eines neuen Paradigmenwechsels befinden. Zunächst wirkte ein Regulierungsparadigma – der Sozialkorporatismus vom New Deal über die formierte Gesellschaft bis zur Great Society. In den 1970er-Jahren brach dieses zusammen und es folgte ein liberales und globalisierungsfreundliches Dynamisierungsparadigma – vom Neoliberalismus bis zum Linksliberalismus. Und was folgt nun, nachdem dieses nun in die Krise geraten ist? Ein neues, anders orientiertes Regulierungsparadigma? Das ist die offene Frage.

Regulierungs- oder Dynamisierungsparadigma

Die eigentlich wichtige Unterscheidung, um das politische Handeln der letzten Jahrzehnte zu verstehen, ist also nicht die zwischen rechter und linker Politik, sondern zwischen Regulierungs- und Dynamisierungsparadigma. Die Politik hat zwei entgegengesetzte Möglichkeiten, um mit gesellschaftlichen Veränderungen umzugehen: Sie kann versuchen, regulierend in den gesellschaftlichen Prozess einzugreifen und damit selbst stärker Ordnungen zu stiften, weil ihr die gesellschaftliche Dynamik zu stark wird, weil Anomie und Ungleichheit drohen. Das ist die Ausrichtung eines Regulierungsparadigmas.

Umgekehrt kann die Politik aber auch die gesellschaftliche Dynamik mobilisieren, das Spiel der Kräfte auf den Märkten, die Interessen und Wünsche der Individuen, die Dynamik der Technik ermutigen, da ihr diese Prozesse zu sehr gehemmt erscheinen. Das ist die Politik eines Dynamisierungsparadigmas.

Beide Paradigmen entstehen nicht beliebig, sondern antworten jeweils auf historische Krisen: Auf Überdynamisierungskrisen antwortet häufig ein Regulierungsparadigma, auf Überregulierungskrisen ein Dynamisierungsparadigma. Weder ist das eine per se gut noch das andere per se schlecht. Die Frage ist, wann einem der Absprung in eine neue Denkweise gelingt.

Dieser Beitrag stammt aus

taz FUTURZWEI N°12

Antworten auf historische Krisen

Ein Blick zurück in die politische Geschichte verdeutlicht dies: In den 1930er-Jahren waren die westlichen Industriegesellschaften in eine gigantische Überdynamisierungskrise geraten: Börsencrash, Massenarbeitslosigkeit, urbane Anomie bis hin zu politischen Bürgerkriegstendenzen. Darauf gab es eine totalitäre Antwort, die versprach, mit der Dynamik kurzen Prozess zu machen: die NS-Herrschaft. Aber es gab auch innerhalb des demokratischen Spektrums Antworten eines Regulierungsparadigmas, die versuchten, den entfesselten Kapitalismus zu bändigen und die kulturelle Anomie abzuwenden: Roosevelts New Deal oder der skandinavisch-sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat inklusive Volksheim, aber auch die formierte Gesellschaft der Christdemokratie oder die Planification de Gaulle, eine Form gemäßigter Planwirtschaft. Man sieht also: Es gab progressive und konservative Versionen des Regulierungsparadigmas, dass aber auf nationaler Ebene reguliert werden sollte, darüber war man sich von links bis rechts einig. Und: Die Regulierung betraf sowohl die sozioökonomische Ebene (Keynesianismus, Sozialstaat etc.) als auch die kulturelle Ebene (Volksheim, formierte Gesellschaft).

In den 1970er-Jahren geriet das Regulierungsparadigma in eine grundsätzliche Krise, eine sozioökonomische und soziokulturelle Krise zugleich. Die nationale Wirtschaftsregulierung der Industriegesellschaften stieß an ihre Grenzen, Postindustrialisierung und Globalisierung setzten ein, die Ökonomie stagnierte, Inflation, Arbeitslosigkeit und Überschuldung prägten seit der Ölkrise 1973 das Bild. Parallel wurde nach der Protestbewegung von 1968 eine Unbefriedigtheit insbesondere der jungen Akademiker und Akademikerinnen mit dem Konformismus der nivellierten Mittelstandsgesellschaft sichtbar. Beide Komponenten zusammen bildeten eine umfassende Überregulierungskrise.

Die politische Antwort darauf war seit den 1980er-Jahren die Etablierung eines neuen Dynamisierungsparadigmas. Die Deregulierung der Ökonomie und die Deregulierung des Sozialen und Kulturellen erschienen nun als zentrale Notwendigkeit, ein neuer Liberalismus beherrschte die Agenda. Auch das Dynamisierungsparadigma hat eine rechte und eine linke, es hat zudem eine sozioökonomische und eine soziokulturelle Seite. Zweifellos ist der vielzitierte Neoliberalismus im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik ein zentraler Bestandteil: Die Ablösung des nationalen Steuerungsstaates durch den Wettbewerbsstaat, der sich in der Konkurrenz des globalen Marktes zu behaupten versucht; die Förderung der ökonomischen Globalisierung und der Abbau des Wohlfahrtsstaates sind seine Instrumente. Der Linksliberalismus bildet jedoch den anderen, den zweiten Flügel des liberalen Dynamisierungsparadigmas: Der Abbau der Geschlechterhierarchien, die Stärkung der Persönlichkeitsrechte, das Lob von Migration und kultureller Diversität – der Ausbruch aus dem Konformismus und der Homogenität der nivellierten Mittelstandsgesellschaft wird so staatlich ermutigt.

Eine Great Society 2.0

Die Antwort müsste vielmehr lauten, das Verhältnis zwischen Ordnungsbildung und Dynamik neu auszutarieren, sprich: einen Paradigmenwechsel in Richtung eines neuen Regulierungsparadigmas einzuläuten.

Es ist offensichtlich, dass nach 2010 das Dynamisierungsparadigma seinerseits an seine Grenzen stößt. Auf sozialökonomischer Ebene sind die Schattenseiten entfesselter Märkte, die neoliberale Vernachlässigung öffentlicher Infrastruktur und die Verschärfung der sozialen Ungleichheiten zwischen Superreichen und prekärer Service Class sehr deutlich geworden. Auf soziokultureller Ebene haben die entfesselten Wünsche und Aspirationen der Individuen und Gruppen den zivilen Konsens der Gesellschaft mehr als fragil werden lassen, wofür die enthemmte Kommunikation in den digitalen Medien nur die Spitze des Eisberges darstellt. Und auf ökologischer Ebene hat uns die immer stärkere Steigerung globaler Konsumansprüche ohne Rücksicht auf ökologische Kosten den Klimawandel beschert. Es gibt also deutliche Anzeichen einer Überdynamisierungskrise. Wichtig ist dabei, ihre Mehrdimensionalität zu erkennen: Während die Linke die Kosten des Neoliberalismus moniert, Kommunitaristen die kulturelle Krise verfolgen und Ökologen den Blick auf die Klimakrise richten, muss man sehen, dass alle drei strukturell zusammengehören.

Im historischen Vergleich wird damit aber auch deutlich, dass eine Antwort der Politik auf die Überdynamisierungskrise gerade nicht in einem einfachen Rutsch nach links oder nach rechts bestehen kann. Was sollte das auch genau bedeuten? Von welcher Linken oder Rechten wäre die Rede? Die Antwort müsste vielmehr lauten, das Verhältnis zwischen Ordnungsbildung und Dynamik neu auszutarieren, sprich: einen Paradigmenwechsel in Richtung eines neuen Regulierungsparadigmas einzuläuten.

Dieser kann aber keine einfache Kopie des Sozialkorporatismus der 50er- und 60er-Jahre liefern, da die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mittlerweile andere sind. Auf den Dynamisierungsliberalismus der letzten Jahrzehnte könnte, ja müsste also eine Art ›einbettender Liberalismus‹ folgen. Nötig erscheint eine Politik, welche die grenzenlose Dynamik der Märkte, der individuellen Wünsche und Identitäten sowie umweltbelastenden Konsumtion in einen sozialen und kulturellen, staatlichen und zivilgesellschaftlichen Rahmen einbettet und so neu reguliert. Eine Great Society 2.0 gewissermaßen. Zentral für diesen regulativen Liberalismus, will er ein überzeugendes und wirkungsvolles Paradigma liefern, ist zweierlei. Er muss auf die ökonomische, die kulturelle und die ökologische Überdynamisierungskrise zugleich antworten: Die Sicherung der öffentlichen Infrastruktur und die Verringerung der sozialen Ungleichheit, die Sicherung kultureller Grundwerte und kultureller Reziprozität, die ökologische Regulierung von Energie und Verkehrswesen lassen sich nicht gegeneinander ausspielen.

Die Links-rechts-Unterscheidung wird zweitrangig

Zum anderen: Anders als für den Sozialkorporatismus der Nachkriegszeit ist die gesellschaftliche Realität zu Beginn des 21. Jahrhunderts die einer globalisierten Ökonomie, einer postindustriellen Gesellschaft und einer kulturell pluralisierten, multiethnischen Kultur. Ein Zurück in nationale Steuerungsfantasien kann es daher nicht geben. Vielmehr muss es darum gehen, die Fortschritte des Dynamisierungsparadigmas – die Anerkennung von Heterogenität und Individualität sowie die Einsicht in die globale Struktur der Ökonomie – in den einbettenden Liberalismus zu integrieren. Gerade dies unterscheidet einen einbettenden Liberalismus vom (vor allem rechten) Populismus, der sich nicht zufällig ebenfalls als Reaktion auf die Überdynamisierungskrise formiert hat: Denn dort kippt die staatliche Regulierung um in Fantasien einer illiberalen Schließung der Gesellschaft, während es dem einbettenden Liberalismus nicht um eine Regulierung gegen, sondern inmitten der Dynamik der spätmodernen Ökonomien und Kulturen geht.

Wie dieses liberale Regulierungsparadigma genau auszugestalten ist – dies ist dann tatsächlich eine Frage, in der die Differenz zwischen links/progressiv und rechts/konservativ sehr wohl eine Rolle spielt. Ein progressiver, einbettender Liberalismus wird stärker auf öffentliche Infrastruktur (Wohnen, Bildung etc.) für alle, auf universalistische kulturelle Werte und auf größere Vehemenz im Umgang mit dem Klimawandel setzen, als es ein ›compassionate conservatism‹ sich erlauben kann.

Grundsätzlich aber gilt: Angesichts der Tragweite, die ein erneuter politischer Paradigmenwechsel im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts bedeuten würde, wird die Links-rechts-Unterscheidung zweitrangig.

ANDREAS RECKWITZ ist Professor für Kultursoziologie und Autor von Das Ende der Illusionen und Die Gesellschaft der Singularitäten (beide suhrkamp).

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