Ein Zug durch die Nachbarschaft : Ein für ältere Semester erfreulich überschaubares Bierangebot
ULLI HANNEMANN
In die erste avisierte Neuneuköllner Kneipe für nette junge Leute lassen sie uns erst gar nicht rein. „Noch nicht offen“, wird uns durch die geschlossene Tür hindurch bedeutet, unterstützt von kruzifixartigen Gesten, als wolle man einen Vampir abwehren. Bestimmt haben sie Angst, dass sie nach Feierabend streng riechende alte Männer, die auf dem Sofa eingeschlafen sind, aus dem warmen Lokal bekommen müssen, nachdem diese zuvor die gesamte Kundschaft vergrault haben. Mit Schnorren, mit Stinken, mit „Hörma, Mädelchen, was geht ab? Rock ’n’ Roll, Alter, ich bin der Joe!“
Wir spähen durch die große Fensterfront hinein. Der Laden ist tatsächlich noch leer. Nur ein Kunstmädchen hüpft im Licht eines Standscheinwerfers herum und fotografiert sich mit ernster Miene selber. Sie unterbricht die selbstverliebte Pose, um uns mit einer Handbewegung fortzuscheuchen. Die frühe Uhrzeit ist natürlich ein gutes Argument. Besser auch als diskriminierende Piktogramme. Ich stelle mir ein rot-weißes, durchgestrichenes Symbol vor, das eine gebückte Gestalt zeigt, die die Zahl, sagen wir mal Vierzig, in Form eines Rollators vor sich herschiebt: „Wir müssen leider draußen bleiben.“
Aber so leicht werden die uns nicht los. Wir kommen einfach später wieder. Bis dahin beschließen wir, im nahegelegenen Sanderstübl unterzuschlüpfen. Dort lässt man uns anstandslos ein, dort sind wir auf einmal die Jüngsten. In jeder der vier Ecken des Gastraums brütet ein stummer Gast vor seinem Bier, als hätte ein überdimensionierter Schachspieler beim Aufbau der Figuren zunächst die Türme hingestellt und wäre anschließend verreist oder verstorben. Das Bierangebot ist erfreulich überschaubar. Es gibt Schultheiß vom Fass und Weizen aus der Flasche. Kein Schnickschnack, kein Firlefanz, keine dritte Sorte. Wir unterhalten uns leise. Ab und zu seufzt einer der Gäste schwer, aber nicht wirklich unzufrieden, vor sich hin.
Nach einer halben Stunde Sanderstübl fühlen wir uns buchstäblich wie neu geboren. Wir sind nun reif für die Kneipe für nette junge Leute. Wir zahlen und wir gehen. „Schön’ Ahmt no’“, knarzen uns die Türme hinterher.
In der Kneipe für nette junge Leute sind wir fast die Ersten. Die nette junge Tresenfrau mustert uns mit einem Blick, der offen lässt, ob sie sich verarscht oder bedroht vorkommt. Aber immerhin macht sie uns ungefragt einen Zettel. Wahrscheinlich hat sie keinen Bock darauf, wie wir bei jeder Bestellung mit zittrigen Fingern und trüben Auges die Kupfermünzen aus dem Portemonnaie pulen, umständlich auf den Tresen legen und bitten: „Schaue Sie mal, nehme Sie sich einfach das Passende raus?“
Das Kunstmädchen baut den Scheinwerfer ab, und das Lokal füllt sich rasch. Dicht gedrängt stehen die netten jungen Leute zwischen den Tischen herum. Von meinem Sessel aus sieht das sehr unbequem aus. Im Sanderstübl wäre ja noch jede Menge Platz. Ich kann nur leider nicht genug Spanisch, um ihnen das vorzuschlagen. Die einzige Form der Kommunikation zwischen uns und den netten jungen Leuten besteht darin, dass alle zehn Minuten eine neben unserem Tisch stehende nette junge Frau wortlos mein Feuerzeug vom Tisch grapscht, sich eine Zigarette anzündet und es anschließend, ohne mich, den Tisch und das Feuerzeug auch nur eines Blickes zu würdigen, geradezu verächtlich mitten auf den Tisch SCHMEISST – ein Verb, das für diesen Vorgang eigens erfunden scheint. Mein Kommunikationsbeitrag besteht wiederum darin, das Feuer dann jedes Mal wieder ordentlich vor mich hinzulegen, bis ich es nach einem halben Dutzend dieser demonstrativen Demütigungen aus Erziehungsgründen wegstecke.
Als wir schließlich gehen, werden uns zwei Bier weniger berechnet. Etwa aus Mitleid? „Wir können noch bezahlen“, bin ich versucht zu sagen, „wir sind gar keine Rentner, sondern nette junge Leute im besten Alter. Guck bloß mal ins Sanderstübl!“, doch dann schlucke ich all die Worte lieber hinunter. „Beehren Sie uns bald wieder“, sagt das Tresenfräulein. Ich fürchte, sie meint das ironisch.