Ein Jahr nach Halle : „Schock, aber keine Überraschung“
Noa Luft und Ruben Gerczikow von der Jüdischen Studierendenunion erzählen über das Leben in Deutschland und ihren Aktivismus.
Das Interview führte JORDI ZIOUR
taz: Als Jüdische Studierendenunion Deutschlands (JSUD) habt ihr am 7. Oktober 2020 gemeinsam mit der Initiative 9. Oktober Halle eine Kundgebung zum Gedenken an die Opfer des terroristischen Anschlags organisiert. Wie durfte man sich das vorstellen?
Ruben Gerczikow: Zum einen wollten wir den Opfern des terroristischen Anschlags in Halle gedenken und uns gemeinsam dafür einsetzen, dass Rassismus, rechter Terror und Antisemitismus in Deutschland keinen Platz haben. Zum anderen wollten wir den Besitzern des Kiez-Döners, Ismet und Rifat Tekin, die fast 30.000 Euro übergeben, die wir mit der JSUD in einer Crowdfunding-Kampagne gesammelt haben.
Wie kam es dazu, dass ihr fast 30.000 Euro gesammelt habt?
Noa Luft: Zur Spendenkampagne kam es, weil Christina Feist, eine Überlebende des Halle-Attentats, im engen Austausch mit Ismet und seinem Bruder ist. Sie hat seine existenzielle Notsituation an mich herangetragen. Denn das staatliche Opferhilfesystem hat nicht gegriffen und aufgrund der Corona-Pandemie bleiben zusätzlich viele Einnahmen aus. Sie fragte uns als Jüdische Studierendenunion, ob wir Ismet unterstützen können. Dann sind wir auf die Idee gekommen, dass wir ihn durch eine Solidaritätskampagne finanziell unterstützen und Aufmerksamkeit auf seine Probleme lenken könnten.
Wie war das für euch, als ihr vor einem Jahr von dem Anschlag in Halle gehört habt?
Gerczikow: Ich habe davon erst relativ spät erfahren, weil ich an Jom Kippur mein Handy aus hatte. Beim Morgengebet war schon eine Unruhe zu spüren, aber niemand wusste, was los war. Abends sind wir dann in die Synagoge gegangen und es war mehr Polizei vor Ort. Es fühlte sich so an, als ob irgendetwas passiert ist. Ich habe erst davon erfahren, als mir jemand in der Synagoge davon erzählte. Aufgrund dessen, dass sehr viele Freunde und Freundinnen von mir zu dem Zeitpunkt in der Synagoge in Halle waren, war es ein Schock, aber keine Überraschung. In Deutschland gibt es eine Kontinuität von rechtsextremem Terror, der zu oft als Einzeltäter deklariert wird, anstatt von rechtem Terror zu sprechen. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis ein größerer antisemitischer Anschlag wieder in Deutschland passiert.
Luft: Ich dachte im ersten Moment: Nein, das kann nicht sein. Für mich war es schon ein sehr großer Schockmoment, aber auch keine Überraschung. Und dann im Endeffekt, wenn man auf gewisse Zeitungsartikel gestoßen ist, war es halt die Wahrheit. Natürlich war ich mir auch dem Rechtsradikalismus in Deutschland und dem steigendem Antisemitismus in Europa bewusst. Aber einfach diese Art des Anschlags, in der Form, mit der Helmkamera, mit einer Militäruniform, ist mir bis heute unbegreiflich.
Wie nehmt ihr die gesellschaftliche Resonanz ein Jahr nach dem Anschlag wahr?
Gerczikow: Ich habe das Gefühl, dass die Themen Rassismus, Antisemitismus oder rechte Gewalt die Mehrheitsgesellschaft nicht interessiert, weil sie selbst nicht betroffen ist. Sich damit auseinanderzusetzen ist auch einfach sehr schwierig, weil man dann auch merkt, dass man einige Privilegien hat, die andere nicht haben.
Luft: Es ist ganz wichtig, dass die Gesellschaft einen Schritt macht und sagt: auch wenn du nicht betroffen bist, musst du dich gegen Antisemitismus und Rechtsradikalismus einsetzen. Es ist nicht nur Aufgabe der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, gegen Antisemitismus zu kämpfen.
Wir sieht euer Aktivismus in der jüdischen Studierendenunion aus und wie organisiert ihr euch?
Gerczikow: Die JSUD ist die bundesweite Vertretung von rund 25.000 jungen Juden und Jüdinnen im Alter von 18 bis 35 Jahren. Wir sind eine politische Organisation. Unser Aktivismus besteht aus vielen verschiedenen Projekten: zum einen die Bekämpfung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Sexismus, Homophobie und eben auch Antisemitismus. Gleichzeitig setzen wir uns politisch klar gegen die Alternative für Deutschland ein, weil wir die AfD nicht als Alternative für Deutschland und schon gar nicht für Juden und Jüdinnen sehen.
Luft: Uns ist es als JSUD auch wichtig, Judentum in der Gesamtgesellschaft sichtbarer zu machen. Zum Beispiel veranstalten wir die jüdische Campuswoche. Aufgrund von Covid-19 hat das dieses Jahr nicht stattfinden können. Ist aber für nächstes Jahr geplant und dann hoffentlich an 23 verschiedenen Universitäten in ganz Deutschland. Das ist organisatorisch so aufgebaut, dass es hauptsächlich an die jüdischen Hochschul- oder Regionalgruppen weitergegeben würde.
Gerczikow: Da geht es explizit nicht um Antisemitismus, nicht um die Shoa und nicht den israelischen-arabischen Konflikt, sondern um jüdische Kultur, jüdische Religion, jüdische Diversität. Da gab es alles von koscherer Weinverkostung bis zu jüdischen Filmabenden.
Wie ist es, als junge Juden und Jüdinnen in Deutschland zu leben?
Gerczikow: Für mich ist es eigentlich ganz normal. Ich weiß, dass ich als Jude in Deutschland mit einer Zielscheibe auf dem Kopf rumlaufe und immer von antisemitischen Angriffen bedroht werden kann und es auch geworden bin. Aber nichtsdestotrotz versuche ich, mich nicht davon einschränken zu lassen. Ich glaube, wir erleben im Vergleich zu sehr vielen anderen Ländern ein sehr privilegiertes jüdisches Leben. Trotz aller Sicherheitsbedenken, die es auch in anderen Ländern gibt. Trotzdem muss man auch festhalten, dass es Juden und Jüdinnen selten so gut ging wie aktuell und das trotz aller Probleme. Es gab Zeiten – auch schon vor dem zweiten Weltkrieg – wo der Antisemitismus noch viel gravierender war, als er es jetzt ist. Deswegen fühle ich mich als Jude in Deutschland schon wohl, ohne naiv klingen zu wollen, es ist natürlich nicht das perfekte Leben, wenn man an Sicherheitsleuten und bewaffneten Polizisten und Polizistinnen zur Synagoge und zum Gebet gehen muss.
Luft: Ich bin immer extrem offen mit meiner jüdischen Identität umgegangen. Weil es mir auch immer darum geht, die positiven Seiten zu betrachten und an die schönen Momente zu denken, wie zum Beispiel die Machanot, die wie jüdische Sommer- und Winter-Ferienfreizeit sind. Aber in den letzten Jahren kommen Gedanken, die man sich vorher nicht so gemacht hat, durch den steigenden Antisemitismus und die direkten Attentate, wie jetzt auch in Hamburg am Sonntag.
Was sind eure Forderungen als jüdische Studierendenunion an die Politik?
Gerczikow: Die Ängste und Sorgen von Betroffenen antisemitischer Gewalt ernstzunehmen. Das beste Beispiel ist Halle. Die jüdische Gemeinde in Halle hat mehrmals Polizeischutz angefordert, weil man als jüdische Institution immer einer Bedrohung ausgesetzt ist. Wenn dann ein Anschlag passiert, ist das das alleinige Verschulden derjenigen, die nicht zugehört haben. Uns macht es auch keinen Spaß, diese Sicherheitsvorkehrungen zu haben, aber sie sind halt notwendig. Zu oft wird gesagt, Antisemitismus oder Rassismus würden nicht existieren oder Leute überreagieren. Dann stellt sich die Frage: Warum sollte ich das machen? Einfach so, um mein Leben selber einzuschränken?
Luft: Ich glaube, dass bildungspolitisch einige Dinge verändert werden müssen, um die Normalität des Judentums darzustellen und um die Shoa anders zu beleuchten.
Blick in die Zukunft: Wie glaubt ihr wird sich jüdisches Leben in Deutschland entwickeln?
Gerczikow: Ich glaube, dass sich schon sehr viel entwickelt hat. Was wir in den letzten Jahren gesehen haben, ist, dass gerade sehr viele jüdische Studierende Lust haben, aktiv etwas zu machen. Es gibt eine starke jüdische Infrastruktur und eine florierende jüdische Gemeinschaft, die Teil dieser Gesellschaft ist und sein möchte. Nichtsdestotrotz muss man auch im Blick haben, dass es einen steigenden Antisemitismus in Deutschland gibt. Heute ist es normal, dass Polizei vor einem jüdischen Kindergarten oder einer jüdischen Schule steht. Es sollte nicht normal sein, dass kleine Kinder bewaffnete Männer und Frauen vor der Schule sehen.