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ERSTE HIOBSBOTSCHAFT IM NEUEN JAHR: DAS WELTGEWISSEN IST VON UNS GEGANGEN. ABER WENIGSTENS BEFREIEN EINEN EXIL-ÖSTERREICHER MUSIKALISCH VON JEDER NATION Hingerissen pafft das Publikum mit

VON SONJA VOGEL

Das neue Jahr zieht sich bereits ganz schön hin. Ermattet von Weihnachtsdepression, Feiertagsverzweiflung und großem Neujahrskater bin ich irgendwo zwischen den Jahren hängen geblieben. Das Maximum: der Weg vom Büro die Treppe runter in die Kneipe.

Als ich da mit den Kollegen an der Theke klebe, ereilt uns die Hiobsbotschaft: Das Weltgewissen war von uns gegangen. Weltgewissen – so hatten wir den kuhgroßen Kneipenhund genannt, der sich über den Erdball schleppte, als laste die Unbill der ganzen Welt auf seinen Schultern. Kam er heran, verstummten wir, langsam verrauchten die Selbstgedrehten. Erst wenn er vorüber war, saugten wir uns wieder an den Zigaretten fest. Ohne den Hund aber zog es auch unsere Schultern nach unten.

Gut nur, dass der Antinationale Neujahrsempfang der Gruppe Top Berlin anstand. Eine Soliparty gegen all den Mist, ha! Schon am Ostkreuz lasse ich mich von Mate-Flaschen-TrägerInnen mitreißen und werde sicher im About blank angeschwemmt. Die Exil-Österreicher von Ja, Panik spielen dort als Andreas Spechtl & das Libertatia Orchester gegen den Wiener Akademikerball, eine Feier der österreichischen Rechtsaußen.

Einspieler zeigen das ganze Grauen: klobige Burschis, Stumpfdumme und Politikleichen stolpern über ihre Sätze und groteske Festtagsgewänder. Brrr! Während das Publikum den Ekel mit Sekt hinunterschlürft, rezitieren die Popper der Beatpoeten Punktexte. Auch ohne Metaebene entfalten die eine melancholische Poesie. Von Razzia zum Beispiel: „Als Haus wärst du ’ne Hütte / Als Nahrung Trockenbrot / Als Pflanze Mauerblümchen / Als Raubtier schon längst tot.“ Sogar der Mann, der mit Warhol-Brille und Pullunder etwas deplatziert neben mir steht, gluckst ganz glücklich.

Aber alle warten auf Ja, Panik. Neben der Libertatia-Hymne, mit einem Text, zart und unkitschig („Wo wir sind, ist immer Libertatia / Worldwide befreit von jeder Nation“), spielten Ja, Panik einiges von der neuen Platte: soft, mit souligem Bass und rumpeligen Höhepunkten. Und überhaupt. Niemandem klebt das Haar so schön an den Wimpern fest wie Spechtl. Und, puh, gerade noch die Kurve gekriegt: Ja, Panik ist keine Jungsband mehr! Der Rauch der Zigaretten, an denen sich die MusikerInnen festhalten, zieht in den Spots bonbonbunte Schlieren. Das Publikum pafft hingerissen mit.

Als die Szeneprominenz im Taxi sitzt, stehle ich mich vom Flur auf den Floor, um mir die Neujahrsmattheit zu Mary Velo und Marion Cobrettis Live-Set abzuschütteln. Würde der Bass nicht so laut scheppern, könnte man meine Knochen knacken hören. Am Ende habe ich dann nicht nur die Garderobenmarke verlegt, sondern mir auch die Füße blutig getanzt. Tja, liebe Kinder, so schlimme Dinger passieren auch außerhalb der Grimm’schen Märchenwelt.

Rappendes Bruderpaar

Am nächsten Tag finde ich die Marke, so groß hatte ich sie gar nicht in Erinnerung. Und muss schon wieder raus aus dem Kiez: In der K9 sprechen die Sänger von Gipsy Mafia, einem serbischen Roma-HipHop-Projekt.

Als das rappende Bruderpaar der Mafia in den Neunzigern nach Deutschland flüchtete, erfuhr es hier volle Breitseite den neuen Nationalstolz: überfülltes Asylbewerberheim, ein Nazi-Überfall, den die Behörden nicht verfolgen, erzwungene Ausreise. „Für uns war Rappen der Ausweg“, sagt einer der beiden. In den Texten geht es um den alltäglichen Rassismus: „Zigeunerarbeit“ zum Beispiel, eigentlich ein serbischer Ausdruck für asoziales Verhalten, wird bei Gipsy Mafia zum stolzen Bekenntnis zum Romasein.

Als die Brüder schließlich mit der Punkband Braca Blackvootric auf der Bühne stehen, fremdelt das Berliner Publikum etwas. Doch spätestens mit der Intonation von „Ciganska posla“ zwischen schnulzigem Refrain und derbstem Rap drehen alle durch. Mit Wut im Bauch lässt sich eben auch gut tanzen.