ERDOGAN ALS PRÄSIDENT? AN DIESER FRAGE SPALTET SICH DIE TÜRKEI : Angst vor der Islamisierung
Mehr als eine halbe Million Menschen sind eine eindrucksvolle Zahl. Sie dürfte auch auf Ministerpräsident Tayyip Erdogan ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Was die vielen Demonstranten in Ankara vereinte, war die Angst vor ihm als Präsidenten – beziehungsweise die Angst, dass er als Präsident das Machtgefüge in der Türkei aus der Balance bringen und die „Islamisierung“ des Landes befördern könnte. Seine Partei besitzt im Parlament schließlich derzeit die absolute Mehrheit.
Zum Protestmarsch aufgerufen hatte eine Gruppe säkularer Nationalisten, die sich als verlängerter Arm des Militärs versteht. Sie konnten sich dabei im Einklang fühlen mit dem Generalstabschefs Büyükanit, der am Donnerstag vor der Wahl eines islamistischen Präsidenten warnte, und dem amtierenden Präsidenten Sezer, der am Freitag erklärte, die Republik sei in der größten Gefahr seit ihrer Gründung 1923. Das alles sieht nach einer Kampagne des säkularen Establishments aus: Dieses betrachtet das Militär als Hüter der Republik, das im Notfall auch zum Putsch legitimiert sei.
Nicht alle, die am Samstag zur Demonstration nach Ankara strömten, dürften so denken. Die kemalistischen Hardliner alleine hätten wohl nicht mehr als einige tausend Leute auf die Beine gebracht. Die schiere Masse der Demonstranten zeigte jedoch, wie weit das Unbehagen, die Frommen an allen Schalthebeln der Macht zu sehen, in der türkischen Bevölkerung verbreitet ist. Deshalb hat auch eine des kemalistischen Nationalismus völlig unverdächtige Organisation wie der einflussreiche Industriellenverband Tüsiad schon vor Wochen an Erdogan appelliert, einem konsensfähigeren Präsidentschaftskandidaten den Vortritt zu lassen.
Jahrzehntelang haben die strikt säkularen Kräfte in der Türkei den Ton angegeben. Um zu einem neuen Konsens mit den religiöseren Teilen der Gesellschaft zu finden, braucht es Zeit – und die Bereitschaft zum Dialog. Jeder Triumphalismus ist da verfehlt. Es liegt jetzt an Erdogan, ob er das versteht – oder ob er das Land in eine fatale Konfrontation zwischen kemalistischen Hardlinern und Islamisten steuert. JÜRGEN GOTTSCHLICH