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Archiv-Artikel

EIN ATOMTEST NORDKOREAS LÄSST SICH ERSCHRECKEND LEICHT BEGRÜNDEN Verräterische Wolke

Von einer „Pilzwolke“ über Nordkorea berichtet die südkoreanische Nachrichtenagentur Yonhap – wer denkt da nicht an einen Atombombenversuch? Zumal die New York Times gestern einen neuen Geheimdienstbericht enthüllte, der von aktuellen Vorbereitungen Nordkoreas für einen Atombombentest weiß. Nun mögen Yonhap und die CIA nicht immer verlässliche Informationsquellen sein. Vielleicht ist die Pilzwolke ganz harmlosen Ursprungs. Doch es ist erschreckend, wie logisch sich ein Atomtest als Beweis für die nordkoreanische Atomwaffenfähigkeit politisch erklären ließe.

Erst in den vergangenen Tagen lieferte Südkorea eine Rechtfertigung: Die Regierung in Seoul musste einräumen, in den Jahren 1982 und 2000 selbst geheime Atomexperimente durchgeführt und damit den Atomwaffensperrvertag unterlaufen zu haben. Dass in Pjöngjang anschließend von einem amerikanischen „Doppelstandard“ die Rede war, der Südkorea erlaube, was er Nordkorea verbieten wolle, ist nicht verwunderlich. Sinnfällig wäre ein nordkoreanischer Atombombenversuch aber auch im Hinblick auf die amerikanischen Präsidentschaftswahlen: Ihnen verdankt Nordkorea eine Verschnaufpause der amerikanischen Außenpolitik, die im Wahlkampf genug mit dem Irak zu tun hat. Sie zu nutzen, um Zweifel über einen Atombluff zu beseitigen und so das Pokerspiel am Verhandlungstisch hochzutreiben, liegt nahe. Zumal Nordkorea derzeit die Sechsergespräche mit den USA, China, Russland, Südkorea und Japan über ein atomwaffenfreies Korea aufgekündigt hat.

Tatsächlich kann Pjöngjang auch im Fall einer Wiederwahl von George W. Bush keine Kontinuität der US-Außenpolitik erwarten: Die Hardliner um Bush empfinden dessen bisherige Nordkoreapolitik als gescheitert und könnten nach dem angekündigten Rücktritt von Außenminister Colin Powell schnell an Einfluss gewinnen. Warum also nicht die unvermeidlich erscheinende Herausforderung annehmen und zu einem Zeitpunkt Stärke demonstrieren, wo die Vergeltung minimal ausfallen könnte? Zu viel spricht dieser Tage aus Sicht Pjöngjangs für die Atombombe. GEORG BLUME