EIN ABEND MIT RENATE KÜNAST IM SLUMBERLAND : Wo sie noch mal ran muss
WESTWÄRTS, HO!
Nun also wieder diese vielen Fotos von aufmunternd lächelnden Menschen. Muss ja. Wahlkampf. Da steht man dann immer erst eine Weile vor Parteiplakaten herum und übt sich in der Kunst des Sich-seinen-Teil-dabei-Denkens. Aber schon nach ein paar Tagen sieht man das alles nicht mehr. Eine schöne Demonstration der menschlichen Rezeptionsökonomie. Was man schon kennt, filtert das Gehirn einfach weg. Wie schnell das geht, lässt sich nun bei den Wahlplakaten studieren. Nur die ganz seltsamen fallen einem bald noch auf – was war noch mal die BIG-Partei? Alles andere rutscht unter die Bewusstseinsschwelle.
Da müssen wir ran! Der Slogan der Grünen kann dort, wo ich wohne, aber dann doch zu Diskussionen führen. „Wat soll’n dit schon wieda heißen?“, sagte ein von Aussehen und Habitus her als Schöneberger Altbewohner zu identifizierender Mensch vorm Slumberland. „So redet eijentlich bloß meen Zahnaazt mit mir, da, anne Wurzel, da müssen wa jetz aba ma ran!“, pflichtete ihm sein Kollege bei. Ein dritter sagte: „Oda meen Seelenklempna. An Ihre Muttabeziehung müssen Se langsam würklich ma ran.“ Und der Vierte in der Runde sagte: „Nee, so redet meene Ex imma mit unsan Sohn, wenna nich jut jenuch uffgeräumt hat. Paul, da müssen wa noch ma ran. Det kann der richtich jut nachmachen, wenna mir am Wochenende von erzählt.“
So war’s. Und schnell gewann man den Eindruck, dass der Künast-Slogan hier eher als Über-Ich-Drohung denn als Problemlösungsverheißung begriffen wird. Auf die Betonung „Da müssen wir ran“ kamen sie gar nicht erst. Es ging gleich um „Da müssen wir ran.“ Und müssen – ach nö! Von Über-Ich hielten sie nicht so viel.
Ich saß an dem Abend im Habibi neben dem Slumberland und wollte viel lieber meinen eigenen Gedanken nachhängen. Ging aber nicht. Die Herren vorm Slumberland waren zu laut. Übrigens befinden sich auch in Schöneberg solche in die Kategorie der Veteranen einzuordnenden Menschen auf dem Rückzug; befanden sie sich auch schon, bevor der neue Kunsthype an der Potsdamer Straße ausgerufen wurde. Aber ein paar gibt es schon noch, und ich muss bei ihnen immer an Katja Lange-Müller denken. Ihr schöner Roman „Wilde Schafe“ spielt teilweise im Slumberland der Achtziger. Vielleicht sitzt einer der von mir belauschten Herren ja seitdem hier beim Bier.
„Da müssen wir ran“ ist aber wirklich ein nicht so guter Spruch. Das Lebensgefühl von Schöneberg-Nord trifft er echt nicht; selbst wenn es hier vor Zahnärzten, Therapeuten, Sozialarbeitern und Pädagogen wimmelt. Dieses Ärmelhochkrempelnde, dieses Kernige, dieses Kehrwochenhafte – ne, ne, obwohl man Renate Künast öfter mal auf dem Winterfeldtmarkt einkaufen sieht: Für diese Gegend wurde der Slogan keineswegs entworfen.
Selbstverständlich, man engagiert sich in seinem Kiez, und im Winterfeldt- und Goltzstraßenkiez erst recht. Für jedes Problem findet sich auch sofort eine passende Initiative; schließlich sind hier mal die Menschen hingezogen, denen es in Westdeutschland zu langweilig oder zu normal war. Und man will ja auch wirklich gute Schulen, gute Kitas, ein einvernehmliches Miteinander; gute Jobs wären auch schön. Aber über dreißig Jahre Alternativkultur sind hier längst in die Steine eingesickert.
Wie beschrieb Adorno noch mal das Glück: „Auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung.“ Das, so Adorno, „könnte an die Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten“. Bei solchen Sätzen haben die ehemaligen FU-Studenten hier in der Gegend mal ganz genau aufgepasst. Zumindest eine klitzekleine Erinnerungsspur daran, dass anderes Leben und Emanzipation nicht nur aus Problemelösen besteht, hätte man aus Schöneberger Sicht auf den Plakaten der Grünen schon gern gesehen. Da muss Renate Künast echt noch mal ran. Finde ich.