EDITORIAL VON ANDREAS RÜTTENAUER ZUR GEDÖNS-TAZ : Wir sind so frei
Weiche Themen? Sich in diesen Zeiten, in denen der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist, der Kampf gegen den eliminatorischen Terror des IS zur großen Herausforderung wurde, der Zusammenhalt der EU als Wirtschaftsraum auf die Probe gestellt wird, mit Gedöns zu beschäftigen, ist gewiss ein gewagtes Unterfangen.
Bei all den großen Diskussionen, Kämpfen und Kriegen, die da draußen gerade ausgetragen werden, heißt es, es gehe darum, die Freiheit zu verteidigen. Dabei ist Freiheit längst zum Kampfbegriff verkommen, zu einer Vokabel, die viel zu selten hinterfragt wird. Zu einer Behauptung.
In die großen Konflikte der Welt werden wir geschickt, um die behauptete Freiheit gegen äußere Bedrohungen zu verteidigen. Aber wie frei sind wir überhaupt? Wie frei ist jemand, der längst nicht mehr Herr über die eigenen Daten ist? Wie frei wird sich äußern, wer weiß, dass seine Äußerungen gesammelt, gescannt und durchgerechnet werden, sodass er zielgerichtet mit Werbung zugeschüttet werden kann?
Dabei inszenieren sich private Datensammler wie Google oder Facebook als wahre Freiheitsboten. Ist es wirklich erstrebenswert, dass jeder Taxifahrer werden kann? Die schrankenlose Privatisierung des Lebens kann geradewegs ins Prekariat führen, wenn keiner mehr Löhne oder Arbeitszeiten festlegt. Kann es sein, dass Freiheit Regeln braucht?
Und schon sind wir bei diesem bemerkenswerten Wort: Gedöns. Gerhard Schröder hat es uns geschenkt, als er die Bereiche Familie, Senioren, Frauen und Jugend kurzerhand derart bezeichnet hat. Die ministeriellen Regelungen, die diese Bereiche betreffen, sind dazu da, Freiheit zu schaffen.
Es geht um Chancengleichheit. Sie ist bei all dem, was längst erreicht wurde, noch immer ein Ziel, das es anzustreben gilt. Die immer noch andauernden Kampfdebatten um Frauenquoten oder das stete Streiten über Bildungsbürgerbildung für Bildungsbürgerkinder zeigen, wie wichtig es ist, sich mit Gedöns zu beschäftigen.
Ein Papst, der würdiges Watschn predigt, wird zwar nicht gefeiert – aber er hat dafür gesorgt, dass denen wieder zugehört wird, die fordern, man müsse von Kindern mehr Gehorsam verlangen dürfen. Debatten, die heute über Sexualerziehung geführt werden, hören sich kaum anders an als die, die viele schon vor Jahrzehnten gelangweilt haben.
Und bis aus bayerischen Klassenzimmern die Kruzifixe verschwinden, wird es wohl auch noch eine Weile dauern. Derweil tummeln sich Abtreibungsgegner in einer Partei, die sich auf dem Sprung in den nächsten Bundestag wähnt. Es gilt noch viele Kämpfe für die Freiheit auszufechten. Auch deshalb ist Gedöns, was wirklich zählt.
Debatten und Gleichstellung, Gendergerechtigkeit und ein besseres Leben in einem zu beherrschenden Klima werden anderswo gefürchtet. Wladimir Putin baut in Russland an einem Gegenmodell zu Europa, das an seiner Freiheit werkelt, und findet auch hierzulande viel zu viele Freunde.
Über dem geopolitischen Diskurs vergessen die nur allzu gern, dass es auch beim Krieg in der Ukraine um mehr geht als um Grenzverschiebungen und Machtverteilung. In Russland ist ein gesellschaftlicher Gegenentwurf zu dem formuliert worden, was Putins Leute gern als Gay-Ropa bezeichnen. Wenn sie das Wort Gedöns kennen würden, sie würden zum Kampf gegen Gedöns-Europa aufrufen.
Und so ist die Freiheit, für die in Gedöns-Land noch viele Kämpfe auszufechten sind, schon bedroht, bevor sie überhaupt verwirklicht ist. Das ist der Grund, weshalb die taz Gedöns macht.