Doku über Politkowskaja-Mord: Tod eines Wunders
"Ein Artikel zu viel" ist Porträt des Mordopfers Anna Politkowskaja, aber auch Abgesang auf Putins Russland (Mittwoch, 20.15 Uhr, 3Sat; 23.30 Uhr, ARD)
"Ja, es ist ein Wunder, dass ich noch lebe. Etwas muss mich auf der Erde zurückhalten", sagt die russische Journalistin Anna Politkowskaja im März 2004. Zweieinhalb Jahre später, am 7. Oktober 2006, nimmt dieses Wunder ein tragisches Ende. Die Autorin der oppositionellen Zeitung Nowaja Gazeta wird vor ihrer Wohnung mit gezielten Schüssen regelrecht hingerichtet.
An diesem Tag feiert Staatspräsident Wladimir Putin seinen 54. Geburtstag - der Mann, den die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen seit Jahren als Feind der Pressefreiheit führt und der auf seinem Weg, Russland wieder groß und stark zu machen, über Leichen geht.
Anna Politkowskaja war die Frau, die mit bewundernswerter Hartnäckigkeit und unter Einsatz ihres Lebens immer wieder über die totgeschwiegenen Kriegsgräuel in der Kaukasusrepublik Tschetschenien berichtete. Die 2002 nach der Besetzung des Moskauer Musicaltheaters Nord-Ost mit den Geiselnehmern verhandelte, den Tod von 129 Menschen jedoch nicht verhindern konnte. Und die auf dem Weg ins nordossetische Beslan, wo 2004 bei einem Geiseldrama in einer Schule 334 Menschen starben, einen Giftanschlag nur knapp überlebte.
Doch wer war Anna Politkowskaja noch? Mit seinem Dokumentarfilm "Ein Artikel zu viel", den die ARD und 3Sat heute Abend ausstrahlen, begibt sich der Schweizer Filmemacher Eric Bergkraut auf Spurensuche. Nicht zuletzt durch Gespräche mit den engsten Angehörigen gelingt es ihm, sich dem Menschen Politkowskaja zu nähern. Anna habe ehrlich leben wollen, glaubte aber, dafür noch nicht alles getan zu haben. Sie sei stolz auf ihre Mutter, sagt die Tochter Vera. Sie habe einen Sinn für Gerechtigkeit gehabt, dafür, die Wahrheit zu sagen, aber man könne nicht ständig auf einem Vulkan leben, sagt ihr Exehemann Alexander. Das sind Sätze, die Bewunderung und Respekt ausdrücken, aber auch deutlich machen, was die Journalistin ihrer Familie abverlangte. Und sie liefern einen Teil der Erklärung dafür, warum Politkowskaja ihren Kampf allen Gefahren und Ängsten zum Trotz fortsetzte.
Doch der Film ist nicht nur ein einfühlsames Porträt Politkowskajas. Er erzählt auch einen Teil der jüngsten Geschichte eines Landes, in dem - von vielen Politikern im Westen geflissentlich ignoriert - Bürger- und Freiheitsrechte von der Tagesordnung abgesetzt und allenfalls noch das Anliegen einer kleinen Gruppe standhafter Demokraten sind. Er zeigt Bilder russischer Soldaten, die Tschetschenen in ihrer Heimat foltern und wie Vieh in Lastwagen verladen - folgenlos, versteht sich. Er erzählt von Ermittlungen im Fall Politkowskaja, die diesen Namen nicht verdienen und der Öffentlichkeit Pseudoschuldige präsentieren, so absurd diese auch sein mögen. Und er lässt den Chefredakteur der Nowaja Gazeta, Dmitri Muratow, zu Wort kommen. Dieser spielte nach dem Mord mit dem Gedanken, die Zeitung zu schließen. Denn schließlich sei kein Blatt es wert, dass jemand dafür sterbe. "Ich bitte um Verzeihung, dass wir es nicht geschafft haben, dich zu beschützen", sagt die tschetschenische Menschenrechtlerin Sainap Gaschaijewa am Ende des Films, adressiert an eine Tote. Die nächste derartige Entschuldigung ist wohl leider nur eine Frage der Zeit. Doch so viel scheint sicher: Von der russischen Staatsmacht, auch unter einem Präsidenten Dmitri Medwedjew, werden solche Worte wohl nicht zu hören sein.
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