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Archiv-Artikel

„Die Toten brauchen keine Jeans, keine Kiwis“, sagt Heiner Müller

Die DDR war die Diktatur der Toten über die Lebenden. Ein Gespräch über den richtigen Zeitpunkt zum Sterben

taz: Herr Müller, vor 25 Jahren haben Sie gesagt: „Mir fangen an Landschaften zu gefallen. Ich glaube, ich werde alt.“

Heiner Müller: Ja, das hatte was mit dem Altwerden zu tun. Wenn man gestorben ist, wird man Landschaft.

Sie haben mal gesagt, dass Brecht, wie alle klugen Menschen, rechtzeitig gestorben ist – nämlich vor der Niederschlagung des Budapester Aufstands. Danach hätte er kein Kommunist mehr sein können. Und Sie? Sind Sie rechtzeitig gestorben?

Räuspert sich, trinkt Korn.

Sie waren der letzte sozialistische Schriftsteller?

Vielleicht. In einem der Svendborger Gespräche Walter Benjamins mit Brecht sagt Benjamin den dunklen Satz: „Kafka ist der erste bolschewistische Schriftsteller“, und Brecht erwiderte: „Dann bin ich der letzte katholische.“ Beide Sätze sind von der Geschichte bestätigt worden.

Sie haben sich in der DDR geirrt. Sie haben ihr utopisches Potenzial überschätzt.

Ein privater Irrtum von mir ändert nichts an der Stimmigkeit der Texte. Die Texte sind klüger als der Autor.

Was war die DDR?

Die DDR war ein Geschenk für eine Generation von besiegten Kommunisten, Emigranten, Zuchthäuslern, KZlern, die hier einen schönen Lebensabend verbringen durften. Die einzige Legitimation der DDR kam aus dem Antifaschismus, aus den Toten, aus den Opfern. Deshalb war der Sozialismus auch ein Hort der Langsamkeit, denn die Toten haben unendlich Zeit. Ab einem gewissen Punkt fing es an, zu Lasten der Lebenden zu gehen. Es kam zu einer Diktatur der Toten über die Lebenden – mit allen ökonomischen Konsequenzen. Denn die Toten brauchen keine Jeans, keine Kiwis, keinen Walkman.

Vielleicht geht Ihr Werk mit dem Sozialismus unter. „Lohndrücker“, „Die Bauern“, auch „Germania Tod in Berlin“ werden nicht mehr gespielt. Wer interessiert sich schon noch für den Aufbau der DDR?

Dante hatte ein katholisches Weltbild, mit dem heute kaum jemand anfangen kann. Aber das ändert nichts am Realitätsgehalt der „Göttlichen Komödie.“ Es dauert noch zehn Jahre, dann wird man auch Stücke wie der „Der Lohndrücker“ neu lesen.

Sie haben sich früher als den „größten lebenden deutschen Dramatiker“ bezeichnet. Und jetzt? Wer sind die größten toten Dramatiker?

Shakespeare, Brecht, Müller.

Beneiden Sie Shakespeare?

Shakespeare lebte unter günstigeren Arbeitsbedingungen als ich. Das Theater war die Unterhaltung sowohl der Gebildeten als auch der Massen. Es hatte unter anderem die Funktion, die heute Pornographie und Horrorvideos haben. Die einzigen Vergnügungen, die es daneben noch gab, waren Hinrichtungen und die öffentlichen Irrenanstalten. Um diese Monopolstellung des Theater beneide ich Shakespeare.

Sie sind ein Zyniker.

Ich bin ein Katastrophenliebhaber. Das verbindet mich mit Ernst Jünger.

Sie sind ein Zyniker.

Nein. Ich kann nicht moralisch schreiben. Ich glaube an Konflikt. Sonst glaube ich an nichts. Antworten und Lösungen interessieren mich nicht. Mich interessieren Konflikte.

Herr Müller, für zwei Sätze von Ihnen zum 11. September würde ich glatt mein taz-Abo verschenken.

Trinkt Korn.

Mein „Lettre“-Abo.

Man sollte zugeben, dass man eine Lust an Zerstörung und an Sachen hat, die kaputt gehen. Das war auch 1945 so. Das war ein großes Erlebnis für mich. Alles ist kaputt, nichts funktioniert mehr. Das war die schönste Zeit.

Und der Terror?

Ich finde die moralische Empörung über den Terrorismus irrelevant und eine Heuchelei. Deswegen ist mir der Satz aus Brechts „Fatzer“ so wichtig, das Wort „demütig“. Töten mit Demut, das ist der theologische Glutkern des Terrorismus.

Sind die USA das neue Rom?

Nach dem Fall von Karthago waren die Römer allein auf der Welt. Sie mussten einen neuen Feind erfinden, um das Gleichgewicht zu halten. Da konzentrierte man sich auf die Barbaren. Das waren so diffuse Bewegungen am Rand, die man weder kontrollieren noch definieren konnte. Ab und zu machte man eine Strafexpedition in den germanischen Urwald. Die Parallele zu heute liegt auf der Hand.

Der Kapitalismus hat gesiegt. Und jetzt?

Vor der Festung stehen zig Millionen der Elenden und wollen herein. Es ist eine Illusion zu glauben, dass Europa in der Defensive zu halten ist. Der Sieg des Kapitalismus leitet sein Ende ein, denn man kann nicht erobern, was sich einem an den Hals schmeißt. Daran kann man sich nur verschlucken. Europa ist jetzt plötzlich von Asien und Afrika umzingelt.

Für das Ende des letzten Jahrtausends hat schon Nostradamus prophezeit, dass der Islam Europa besetzt. Das hätte den Vorteil, dass nicht mehr alle in diesen blöden Anzügen und mit Krawatte herumlaufen, sondern im nordafrikanischen Burnus – das ist viel bequemer.

Also wird der Teufel doch irgend wann den Kapitalismus holen?

Dessen bin ich so sicher wie der Papst.

Heiner Müller, geboren am 9. Januar 1929, gestorben am 30. Dezember 1995, wäre heute 75 Jahre alt geworden. Die Zitate stammen aus einschlägigen Müller-Interviews. Zusammenstellung: Stefan Reinecke. With special thanks to Thomas Heise