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Die Seele auf dem Kaminsims Von Ralf Sotscheck

Ein Kaminsims ist ein heiliger Ort. Er dient keineswegs nur zur Aufbewahrung schnöder Familienfotos, sondern läßt tiefe Einblicke in die Persönlichkeit des Kaminbesitzers zu – und einen Kamin besitzen fast alle BritInnen. Der englische Filmemacher Nicholas Barker kam deshalb auf die Idee, Prominente in einer Serie von Talk- Shows über ihren Kaminsims auszufragen – den „Reliquienschrein im Herzen jedes Hauses“, wie Barker das Psycho-Regal bezeichnete.

Doch er hatte wenig Glück: Die meisten der 300 Prominenten, die er eingeladen hatte, sagten ab – darunter die Ex-Pemierministerin Lady Thatcher. Hat sie womöglich etwas zu verbergen? Vielleicht eine Urne, die für die Asche ihres Nachfolgers, Brutus Major, bestimmt ist? Auch Ronald Reagan und Madonna winkten ab. Selbst BBC-Direktor John Birt weigerte sich, seine Kaminsims-Seele im eigenen Sender zu offenbaren: Der Sims spiegle den Geschmack seiner Frau wider. Und mit dem kann es nicht weit her sein, sonst hätte sie den aalglatten marktwirtschaftlichen Totengräber der BBC nicht geheiratet.

„Wir haben Geschichte gemacht“, sagte Barker stolz. „Wir haben mehr Absagen von Prominenten erhalten als jede andere Sendung.“ Allerdings waren nicht alle Absagen höflich gehalten. Der Labour-Linke Tony Benn sagte: „Die Idee für diese Sendung ist kompletter Blödsinn.“ TV-Wetterfrosch Ian McCaskill lehnte vorsichtshalber gleich für alle Ewigkeit ab: „Selbst wenn es die letzte Fersehsendung der Welt wäre, wollte ich damit nichts zu tun haben.“ Barker bescheinigte den Spielverderbern eine niedrige Intelligenz: „Sie haben nicht verstanden, was wir machen wollen.“ Es geht ihm nämlich nicht um trivialen Journalismus, sondern um eine „archäologische Ausgrabung der Vergangenheit bekannter Persönlichkeiten“.

Unseligerweise riß die Aussicht auf einen Fernsehauftritt bei acht „Persönlichkeiten“ sämtliche Schamgrenzen ein. Bei dem berüchtigten Rassisten Enoch Powell kam ödipaler Haß auf seinen Vater auf, kaum war das Wort „Kaminsims“ gefallen. Zwar war der Vater lupenreiner weißer Engländer, aber er hatte Klein-Enoch verboten, einen vergammelten englischen Seestern, den er an einem englischen Strand gefunden hatte, auf dem englischen Sims aufzubewahren. Bei Terence Conran, dem Besitzer einer Warenhauskette, löste die Frage nach seinem Kaminsims merkwürdige Assoziationen aus. „Nuttenschlüpfer“, brach es aus ihm heraus. Dann erzählte er dem verdutzten Reporter, wie er Hunderte der obszönen Unterhöschen aus seinen Läden entfernen ließ. Hat er sich die Dinger über den Kaminsims gehängt – oder wie hängt das zusammen? Die ehemalige Bordellbesitzerin Cynthia Payne erzählte Barker, daß sie gerne tote Freunde fotografiere und sich die Bilder „als letzten Liebesbeweis“ auf den Kaminsims stelle. Warum auch nicht?

Schade, daß Barker nicht auch ein paar RentnerInnen befragt hat. Jedes Jahr erfrieren in Großbritannien Dutzende alter Menschen, weil sie sich keine Briketts leisten können. Nachdem die Tories nun beschlossen haben, Brennmaterialien mit Mehrwertsteuer zu belegen, wird sich diese Zahl mit Sicherheit erhöhen. Aber solch ein Interview hätte ja die schöne Familiensendung ruiniert.

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