■ Die Kaste der „Penner“, „Berber“, „Stadtstreicher“: Parias und lebende Mahnmale
„Obdachlosigkeit“ ist eine Folge von Arbeitslosigkeit und „Deregulierung“ beim Wohnungsbau. Je größer die industrielle Reservearmee insgesamt, desto größer wird auch die der Verelendung preisgegebene Nachhut der Dauerarbeitslosen – die „Lazarus- Schicht“, wie Soziologen des 19. Jahrhunderts sie nannten. Von den – offiziell gezählten – vier Millionen Arbeitslosen hat etwa ein Viertel nicht nur den Job, sondern auch das Mietdach überm Kopf eingebüßt. Und von dieser Million obdachloser Menschen haben viele Zehntausende auch das Behelfsdach verloren und liegen im Wortsinne „auf der Straße“. Niemand kennt ihre Zahl, es gibt da nur Schätzungen. Und alle Ämter, die mit ihnen befaßt sind (oder doch sein sollten), sind bestrebt, das Dunkel ihrer administrativen Unwissenheit zu vermehren und das wirkliche Ausmaß dieses Elends zu leugnen.
Die vom Leben „im Freien“ gezeichneten „Penner“, „Berber“, „Stadtstreicher“ stellen die Paria- Kaste der Gegenwartsgesellschaft. Durch die Maschen des sozialen Netzes gefallen, das über dem Abgrund der Arbeitslosigkeit aufgespannt ist, versuchen die Menschen, die keiner mehr braucht und die sich selbst längst aufgegeben haben, in den Nischen der großen und mittleren Städte noch für eine Weile zu überleben. Ihr Status prägt ihren Habitus. Von dieser Menschen-„Gruppe“, die kaum eine ist, geht keinerlei Gefahr für die Mehrheit, für Staat und Wirtschaft aus. Im Unterschied zu anderen Fraktionen der Reservearmee sucht sie ihre Überlebenschance weder in der Kriminalität noch in der kriminellen politischen Aktion (als Söldnertruppe oder Saalschutz-Bande). Sie fällt niemandem zur Last, nicht einmal Spitälern und Psychiatrien. Diese Menschen sind einfach nur da, apathisch und unauffällig, irgendwo am Rand der Städte: in Parks und Anlagen, unter den Brücken, in den nächtens verödeten Zentren, über den Abluftschächten von Hochhäusern und U-Bahnen, in abrißreifen Häusern und im städtischen Ödland, in Hauseingängen und Toreinfahrten. Keiner weiß, wie sie eigentlich leben (sich waschen, sich kleiden, sich nähren), keiner will es wissen. Für die Mehrheit derer, die auf der Straße liegen, wird nicht gesorgt. Und sie selbst scheinen die Fürsorge der Ämter zu scheuen wie die Pest. Sie, die längst Arbeit, Wohnung und Familie verloren haben, fliehen die soziale Kontrolle, die „Erfassung“, ohne die überhaupt keine Hilfe gewährt wird.
Und doch sind die Elenden, die in den Schmutzwinkeln der großen Städte vegetieren und sich am Alkohol wärmen, da nichts sonst sie mehr wärmt, denen, die (noch) Arbeit und Familie und ihre Mietwohnung haben, ein Dorn im Auge. Die Kaste der „Penner“, um die die „normalen“ Bürger, denen sie hier und da die Bettelhand hinstrecken, nach Möglichkeit einen Bogen machen, repräsentiert für sie das, was sie nicht sind, das, wovor sie auf der Hut, auf der Flucht sind. Jeder „Berber“ macht angst, jeder „Penner“ ist eine Drohung. Er demonstriert, was einem passiert, würde man aus der Tretmühle von Beruf und Familie herausfallen oder sich ihr verweigern. Darum wecken die „Stadtstreicher“, die dem „bürgerlichen“ Leben so offensichtlich entfremdet sind, in viel zu vielen die Angst auf, die sonst den Fremden gilt. Sind sie nicht ebenfalls „Ausländer“, „Asylanten“ ohne Asyl?
Haus und Wohnung verbürgen Schutz vor den anderen. Die eigene Tür und das eigene Bett sind die Mindestvoraussetzungen personaler Autonomie. Wer dieses Refugiums, des Futterals der Privatheit, verlustig geht, verliert damit den Status eines „ordentlichen Menschen“. Wer ständig im „öffentlichen Raum“ lebt, auf der Parkbank, im Gebüsch, am Straßenrand schläft, wird vogelfrei. Darum zieht jeder „Berber“ die aufgestaute Aggression auf sich, die in viel zu vielen Stadtbewohnern gärt.
Die nicht-obdachlose Mehrheit hat die Parias längst abgeschrieben und verweigert ihnen (fast) jede Hilfe. Mehr noch: Sie hat ihnen insgeheim den Krieg erklärt. Das wissen die frustrierten Jugendlichen und die rechten Banden, die (bei uns wie in anderen Ländern) an den Stadtstreichern ihr Mütchen kühlen, das Schurigeln, Quälen und Totschlagen einüben. Das wissen die Polizisten, die solcher Versuchung immer wieder einmal nicht widerstehen können. Und das wissen die „Normalen“, die die „Penner“ Tag für Tag den sozialen Tod sterben lassen – durch Nichtbeachtung, durch Gleichgültigkeit. Für die Mehrheit der ordentlichen Städtebewohner ist die (wachsende) Minderheit derer, die auf der Straße vegetieren, Luft. Sie werden (schon um der eigenen Angst, der eigenen Aggression Paroli zu bieten) behandelt, als wären sie eigentlich gar nicht – oder schon nicht mehr – da. Darum gelten Projekte zur Abschaffung der Obdachlosigkeit (wie die zur Abschaffung der Arbeitslosigkeit) als utopisch. Erwägungen wie die, daß das im Grundgesetz verbürgte Jedermanns-Recht auf „Unverletzlichkeit der Wohnung“ (GG, Art. 13.1) erst Sinn macht, wenn jeder auch eine Wohnung hat, gelten als abseitig. Jeder Berufspolitiker, der so etwas sagte, setzte sich dem Volkszorn aus. Darum wird dergleichen weder gesagt noch gedacht. Und darum scheitern auch die – schlecht dotierten – Programme zur Milderung von Obdachlosigkeit.
Die Parias unterscheiden sich von den „Normalen“ vor allem dadurch, daß sie den „Kampf ums Dasein“ gegen sich selbst und alle anderen, den jeder kämpfen muß, der Job und Familie und Wohnungen haben und behalten will, nicht mehr kämpfen können und nicht mehr kämpfen wollen. Nun warten sie. Worauf? Darauf, daß eine Frostnacht, eine Krankheit, ein Rowdy in Springerstiefeln ihrem Leben ein Ende macht. Oder auf ein Wunder. Zum Beispiel darauf, daß einmal auch nur einer von denen, die ihr Geld nicht zählen und droben in den Glitzertürmen das Kommando führen, in deren Schatten sich die „Berber“ in der Frostnacht eine Zuflucht suchen, seinen Blick nicht von diesem wie von allem anderen Elend unserer Welt abwendet, sondern den Skandal als Skandal erkennt und ein Exempel statuiert: das einer Stadt ohne „Berber“. Wie? Indem er – und einige seinesgleichen: Banker und Aktionäre – eines Bruchteils ihres Reichtums sich entäußern und an 50 Plätzen in der Stadt 100 Container aufstellen lassen, die jedem „Penner“ zu Obdach, Bett und Dusche samt „Unverletzlichkeit der Wohnung“ und dem „Recht auf körperliche Unversehrtheit“ (GG, Art. 2.2.) verhelfen würden. Von heute auf morgen, in Frankfurt, in Hamburg oder auch in Berlin. Warum an 50 Plätzen? Damit sich Nachbarschaften finden, die die wieder „seßhaften“ Penner adoptieren. Und warum gerade Banker und Kapitalrentner? Weil die Kommunen knapp bei Kasse sind und die Passanten ohnmächtig. Aber ist das nicht „rein“ philantropisch gedacht, und hätte solch ein „Wunder“ nicht „bloß“ lokale Wirkung? Ja, sicher ...
Und warum geschieht ein solches „Wunder“ nicht? Weil es nur im Fall einer Naturkatastrophe, etwa eines Erdbebens, das Tausenden die Wohnung demoliert, als selbstverständlich gilt, Menschen, die auf der Straße kampieren müssen, wieder „anständig“ unterzubringen. Und weil soziale Beben wie die Wirtschaftskrise, die viele Millionen Menschen auf die Straße werfen, mangels Alternativen als unvermeidlich hingenommen werden. Helmut Dahmer
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