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Archiv-Artikel

Die Familienpolitik folgt der Gesellschaft KOMMENTAR VON BETTINA GAUS

Die meisten Kulturrevolutionen finden in aller Stille statt. Erst im Rückblick zeigt sich, welch umwälzende Veränderungen durch scheinbar unspektakuläre Entscheidungen eingeleitet wurden. Mit vielen kleinen und mittelgroßen Baustellen reagiert die Politik derzeit auf eine Entwicklung, die in der Gesellschaft längst akzeptiert ist: Eine Familie definiert sich nicht mehr über einen Trauschein. Die Privilegierung der Ehe gegenüber anderen Formen des Zusammenlebens und den damit auch verbundenen materiellen Pflichten dürfte bald der Vergangenheit angehören.

Ein Rückzugsgefecht ist die Abwehrhaltung der Unionsspitze gegenüber Forderungen aus den eigenen Reihen, das Ehegattensplitting abzuschaffen. Es mag noch einige Zeit dauern, bis es so weit ist, aber der Zug ist aufs Gleis gesetzt. Das Ehegattensplitting wird es nicht mehr lange geben. Das gestern vom Kabinett beschlossene Elterngeld weist die Richtung: Arbeitsteilung zwischen erwerbsfähigen Erwachsenen ist erwünscht, die Hausfrauenehe ist es aus vielen Gründen nicht mehr.

Die leeren Kassen dürften die Fahrt beschleunigen. Immerhin entgehen dem Staat durch das Splitting jährlich mehr als 22 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das Elterngeld wird nicht einmal 4 Milliarden Euro kosten.

Verfechtern eines traditionellen Familienbildes gefällt der Kurs nicht. Aber sie können vielleicht Trost aus der Tatsache schöpfen, dass Heiratswillige – und die wird es auch weiterhin geben – ihre Entscheidung dann nicht mehr allein mit dem materialistischen Argument begründen, man wolle Steuervorteile nutzen. Ein solches Motiv müssten ja gerade Konservative besonders abscheulich finden.

Die öffentliche Diskussion darüber, was eigentlich unter Familie zu verstehen ist, wäre nach einer Abschaffung des Ehegattensplittings allerdings nicht vorbei. Im Gegenteil. In einer alternden Gesellschaft ist nämlich auch die Behauptung allzu schlicht, Familie existiere dort, wo es Kinder gebe. Als ob eine Unterstützung für die kranke Schwester kein Teil der Familienfürsorge wäre. Und wie ist es mit einem engen Freund? Das Thema der Zukunft heißt Altenpflege. Vermutlich schon bald auch in der Steuerpolitik. SEITE 2