: Die Arbeitsgesellschaft ist faktisch tot
■ Andre Gorz, der bereits vor 14 Jahren Abschied vom Proletariat nahm, über seine Vision einer Gesellschaft, die sich unter postindustriellen Bedingungen neu organisiert / Flexible Arbeitszeit ...
taz: Die Wirtschaftskrise der letzten Jahre hat in ganz Westeuropa die Arbeitslosenzahlen in die Höhe getrieben und die sozialen Desintegrationsprozesse verschärft. Von professionellen Konjunkturbeobachtern wird inzwischen wieder neues Wirtschaftswachstum angekündigt. Gibt es Hoffnung auf ein Ende der sozialen Krise in den westlichen Industriegesellschaften?
Gorz: Wir haben es ja nicht nur mit einer sozialen Krise zu tun, sondern mit einer regelrechten Systemkrise, gegen die die üblichen Keynesianischen Heilmittel wirkungslos sind. Zum einen erleben wir einen technischen Umbruch – nicht einfach einen Wandel: einen Umbruch, der den Zusammenbruch der lohnarbeitszentrierten Gesellschaften mit sich bringt. Im kürzlich erschienenen Buch von Lothar Späth und Henzler (einem McKinsey-Unternehmensberater) findet man folgende vielsagende Angabe: Wenn der höchste Stand der heute verfügbaren Technik überall dort angewendet würde, wo er anwendbar ist, würden von den 33 Millionen noch bestehenden Arbeitsplätzen in Deutschland gleich neun Millionen wegfallen. Die Arbeitslosigkeit würde auf 38 Prozent ansteigen. Dabei sind wir noch lange nicht am Ende einer Entwicklung angelangt, die es erlaubt, mit immer geringeren Mengen von Arbeit und Kapital immer größere Mengen an materiellem und immateriellem Reichtum zu erzeugen. Das Ansteigen der Produktivität durch arbeits- und kapitalsparende Innovationen wird weiterhin viel größer sein als das mögliche Wirtschaftswachstum. Dies gilt insbesondere für Deutschland – ich rede hier nur über die sogenannten alten Bundesländer –, wo in puncto Rationalisierung eine bedeutende Verspätung aufgeholt werden muß. Nach US-amerikanischen Angaben sind die deutschen Stückkosten 35 Prozent höher als in Japan, 45 Prozent höher als in Frankreich und 50 Prozent höher als in den USA.
Also haben die deutschen Arbeitgeberverbände recht, wenn sie die Senkung der Löhne und Sozialabgaben fordern?
Die Löhne sind nicht das Entscheidende. Die japanischen Löhne sind mittlerweile auf dem gleichen Niveau wie die deutschen. Und die Stückkosten hängen weniger von den Löhnen ab – die betragen in modernen Betrieben nur fünf bis fünfzehn Prozent der Gesamtkosten – als vielmehr von der Technik, der Organisation und dem Betriebsklima. Was die Amerikaner re-engineering nennen, erlaubt es, mit 40 bis 80 Prozent weniger Leuten – oder Arbeitsstunden – und halb soviel Kapital eine gleiche Menge an Gütern schneller und besser zu erzeugen.
Also könnten weiterhin relativ hohe Löhne gezahlt werden, aber für eine immer geringere Anzahl von Arbeitnehmern. Das kann doch keine Lösung sein.
Überhaupt nicht. Aber mit veralteten Methoden viele schlechtbezahlte Leute schuften zu lassen, bringt uns auch nicht weiter. Denn die Konkurrenzfähigkeit hängt nicht einfach von den Löhnen und Preisen ab, sondern eben auch sehr weitgehend von den Produktionsmethoden.
Sie haben sich immer für diese arbeits- und kapitalsparenden Methoden begeistert, oder?
Natürlich, wie alle Menschen nach dem Sündenfall. Denn im Kern wird uns damit ja gesagt: Leute, mit halb soviel Arbeit wie bisher könntet ihr alle besser leben und über immens größere Möglichkeiten der Selbstgestaltung für euer Leben, eure Arbeit und Arbeitszeit verfügen. Dieses Versprechen ist in der mikroelektronischen Revolution enthalten. Sie bedeutet den Tod der Arbeitsgesellschaft – der Lohnarbeitsgesellschaft. Solange wir das nicht anerkennen und diese sterbende Gesellschaft am Leben erhalten wollen, statt sie umzubauen, erleben wir den Umbruch als „Krise“ und bleiben in ihr stecken.
Man hält Ihnen vor, das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ sei eine Luxusidee, für die sich bloß einige wirklichkeitsfremde Intellektuelle einsetzen. In der sozialen Realität wird mit der steigenden Arbeitslosigkeit den Menschen die Arbeit nicht unwichtiger, sondern wichtiger denn je. Insofern hat die Arbeitsgesellschaft also eine gesicherte Zukunft.
Da frag' ich Sie: Wer ist jetzt wirklichkeitsfremd? Wer quatscht ideologisch und will einfach nicht zur Kenntnis nehmen, daß das Arbeitsvolumen der deutschen Industrie innerhalb von zwanzig Jahren um 40,8 Prozent geschrumpft ist; daß mit dem re-engineering mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer keinen festen Vollzeitjob mehr haben wird, sondern nur noch zeitweilig, sozusagen auf Abruf, eine Teilzeitarbeit; daß die 500 größten US-amerikanischen Firmen insgesamt nur noch zehn Prozent ihrer Arbeitnehmer fest und vollzeitig beschäftigen; daß unzählige jüngere Menschen – von den älteren gar nicht zu reden –, wie hoch oder niedrig ihre berufliche Ausbildung auch immer sei, die Hoffnung schon aufgegeben haben, je einen festen, sinnvollen, ihren Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsplatz zu finden? Also: Faktisch ist die „Arbeitsgesellschaft“ schon tot. Faktisch ist es unmöglich geworden, die Ausübung einer entlohnten Arbeit als einzige Quelle gesellschaftlicher Zugehörigkeit und persönlicher Indentität anzusehen. Die meisten Menschen erleben heute, daß die Gesellschaft sie zumindest zeitweilig gar nicht braucht oder nicht brauchen wird und daß die Gesellschaft sich auch nicht darum kümmert, welche Fähigkeiten sie zu bieten haben.
Daß der faktische Tod der Arbeitsgesellschaft bei vielen noch nicht dazu geführt hat, die Arbeitsgesellschaft abzuschreiben und eine andere Gesellschaft zu wollen, in die man sich auch durch andere Betätigungen als die Lohnarbeit eingliedert, verweist auf die Ungleichzeitigkeit der objektiven und der subjektiven Entwicklungen. Wenn diese auseinanderklaffen, ist es um die Zukunft der Demokratie schlecht bestellt. Es ist dringende Aufgabe der Politik, klarzumachen, daß es keinen Wege zurück zur Vollbeschäftigung durch industrielles Wachstum gibt, wohl aber einen Weg vorwärts, der die größten Versprechungen enthält – vorausgesetzt, die Gesellschaft weiß die objektive Entwicklung zu steuern und zu gestalten.
Sie meinen damit eine systematische Politik der Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung. Ist die Vereinbarung bei Volkswagen – Vier-Tage- und 28,8-Stunden-Woche – ein Modell für die Zukunft?
Wo ist da die systematische Politik? Wo die Umverteilung? Ein gesamtgesellschaftliches Problem kann doch auf der Ebene einzelner Betriebe keine Lösung finden. Im übrigen ist die Vereinbarung bei Volkswagen ganz kurzfristig und provisorisch. Die Volkswagen- Werke sind ja in ihrer Konzeption veraltet. Und die Frage ist: Was soll geschehen, wenn in ein paar Jahren nur noch halb soviel Arbeitsstunden nötig sind? Sollen sie wieder auf die gleichbleibende Anzahl von Arbeitnehmern aufgeteilt werden? Und die arbeiten dann nur noch 18 Wochenstunden bei halbem Lohn? Das geht doch nicht. Das Problem, das die fortschreitende Einsparung von Arbeitszeit aufwirft, muß durch eine prinzipielle, überbetriebliche, sozial- und wirtschaftspolitische Strategie gelöst werden, deren praktische Umsetzung dann in Rahmenabkommen und betrieblichen Verhandlungen vereinbart wird. Ohne gesellschaftspolitisches Konzept bleiben die Gewerkschaften in der Defensive, immer mir dem Rücken an der Wand.
Wie soll dieses Konzept aussehen? Erstens muß die durch die Technik freigesetzte Arbeitszeit allen zugute kommen, und zwar in der Form kürzerer Arbeitszeit und größerer Zeitsouveränität der Arbeitnehmer; und zweitens darf sich, außer in Ausnahmesituationen, das Einkommen der Arbeitenden mit verkürzter Arbeitszeit nicht verringern. Viele Menschen, besonders in den neuen Bundesländern, wollen gar keine Arbeitszeitverkürzung. Sie wollen Arbeit.
Klar, Arbeitszeitverkürzung setzt voraus, daß du Arbeit hast. Aber umgekehrt können alle bei steil ansteigender Produktivität nur in „Lohn und Brot“ bleiben, wie man einst sagte, wenn jeder weniger arbeitet. Die Umverteilung des gesamten Arbeitsvolumens und die des gesamten erwirtschafteten Reichtums auf alle Menschen müssen untrennbar miteinander verbunden bleiben. Aber natürlich hat die durch Arbeitszeitverkürzung freigesetzte Zeit nur dann einen Wert, wenn man damit etwas anfangen kann. Was nun in den „neuen Bundesländern“ gemacht wurde, war einfach katastrophal. Denn erstens war die Arbeit dort ziemlich verschieden von dem, wie sie bei uns ist. Die Leute waren viel mehr „bei“ als „in“ der Arbeit. Das Tempo, die Verhältnisse und Beziehungen waren entspannter. Die Trennung von Arbeits- und Lebenswelt war nicht so scharf wie im Westen. Und zweitens waren mit dem Arbeitsplatz Selbstbetätigungsmöglichkeiten, vom Betrieb bereitgestellte öffentliche Dienste, soziale und kulturelle Einrichtungen verbunden. Nachdem die Bundesrepublik sich die ehemalige DDR einverleibt und sie gleichgeschaltet hat, sind sowohl die meisten Arbeitsplätze als auch die von den Betrieben und zum Teil von den Gemeinden bereitgestellten Einrichtungen und Dienste verschwunden, die Gesellschaftlichkeit und Zusammenleben, Selbstbetätigung und Unterhaltung außerhalb der Arbeitszeit ermöglichten. Die Menschen sind zu arbeitsloser Langeweile verurteilt. Ihre Alltagskultur ist zusammengebrochen, Frust, Sehnsucht und gewalttätige Selbstbehauptung ihres geschundenen Selbstwertgefühls bleiben übrig. Und nun bauen ihnen westliche Konzerne, einschließlich Volkswagen, noch schöne neue Fabriken auf höchstem technischem Niveau, in denen die Arbeitsproduktivität und -intensität um fünfzig bis hundert Prozent höher sein wird als im Westen. Das Kapital hat also zuerst die westlichen gegen die östlichen Bundesländer ausgespielt, indem es sich durch Schließung der meisten östlichen Betriebe neue Absatzmöglichkeiten verschaffte. Und jetzt spielt es die neuen östlichen Betriebe mit ihren gewerkschaftlich unerfahrenen und schlecht organisierten Arbeitern gegen die westlichen Arbeiter aus, imdem es die östliche Arbeitslosigkeit zum Teil nach Westen verlagert.
Bisher war die Arbeitszeitverkürzung ausschließlich ein gewerkschaftliches Kampfthema. Ist das ausreichend?
Nein, sie darf nicht nur ein gewerkschaftliches, sondern muß auch ein politisches und kulturelles Projekt werden. Dabei müßten die Akzente in den alten und neuen Bundesländern etwas unterschiedlich gesetzt werden. Denn im Westen ist die Ausdifferenzierung von Arbeits- und Lebenssphäre seit langem viel schärfer. Das Arbeitsleben ist, bei vollzeitiger Beschäftigung, auf 1.500 Jahresstunden und höchstens dreißig Lebensjahre verdichtet. Die berufliche Arbeit hat längst – außer für eine schwindende Minderheit – aufgehört, der Schwerpunkt und der hauptsächliche Sinn des Lebens oder gar der hauptsächliche Sozialisierungsfaktor zu sein. Das ergibt sich aus allen Umfragen, auch in den europäischen Nachbarländern. Der Kampf um die Art und Weise, wie die im ökonomischen Produktionsprozeß eingesparte, freigesetzte Zeit umverteilt, von der Gesellschaft und den einzelnen verwendet und genützt wird, also der Kampf um die gesellschaftliche und individuelle Aneignung der freigesetzten Zeit, ist eines der wichtigsten Konfliktthemen der postindustriellen Gesellschaften. In ihm sind politische, ökonomische, kulturelle und geschlechtsspezifische Konflikte miteinander verknüpft.
Wie soll die gewonnene freie Zeit ausgefüllt werden?
Die von Erwerbsarbeitszeit freigesetzte Zeit darf schon längst nicht mehr als „Freizeit“, als „Mußezeit“, als rein private Lebenszeit angesehen werden. Sie ist zur gesellschaftlich überwiegenden Zeit geworden. Sie ist gesellschaftlich produktiv, sinnschöpfend, obwohl dies aufgrund der Kolonisierung durch die Freizeitindustrien zum Teil verdeckt wird. Eine der großen politischen Aufgaben ist es, den gesellschaftlichen Wert der vom Lohnarbeitsverhältnis freigesetzten Zeit öffentlich – das heißt auch rechtlich – anzuerkennen und die in ihr stattfindende Entwicklung von nicht monetären, nicht warenförmigen Selbstbetätigungen durch öffentliche Einrichtungen und Dienste zu unterstützen.
Woran denken Sie da?
Quantitativ können sich heute allein Tätigkeiten entwickeln, die weder in der Produktions- noch in der Reproduktionssphäre liegen und dem Marxschen Arbeitsbegriff nicht mehr entsprechen: beziehungsintensive Tätigkeiten, Pflege der Umwelt, der Künste, der Qualität des Zusammenlebens und so weiter, also Tätigkeiten, die keinen Mehrwert schöpfen, nicht instrumentell rationalisierbar sind und deshalb jenseits der Lohnarbeitsgesellschaft liegen. Diese Tätigkeiten entwickeln sich sinngemäß am besten als Selbstbetätigung, als selbstorganisierte Netze gegenseitiger Unterstützung, als Austausch von Dienstleistungen und als Selbstversorgung. Auf dieser Basis läßt sich eine gesellschaftliche Alternative zur Lohnarbeitsgesellschaft und zur Krise des Sozialstaats aufbauen.
Zurück zur Arbeitszeitverkürzung. Sie haben gesagt, daß das Einkommen der Arbeitenden sich bei einer Verringerung der Arbeitszeit nicht verringern darf...
Außer in Ausnahmesituationen. Wenn das Wirtschaftssystem mit geringerem Arbeitsaufwand mehr Verkäufliches produziert, muß für die geringere Arbeitsmenge eine steigende Kaufkraft verteilt werden. Nun wird aber Arbeit nicht in allen Bereichen im gleichen Außmaß eingespart. Gesamtwirtschaftlich liegt die Produktivitätssteigerung im Durchschnitt bei zwei bis drei Prozent jährlich. In der Industrie und in computerisierbaren Diensten kann sie aber auch zehn bis zwanzig Prozent im Jahr, im Unterrichts- oder Pflegewesen dagegen minus fünf Prozent betragen. Wenn man also die Produktivitätssteigerung, die Arbeitsersparnis, allen Menschen im gleichen Ausmaß zugute kommen lassen will, hat man folgendes Problem: Die Arbeitszeit muß für alle um ein durchschnittliches Maß – bei geringem Wirtschaftswachstum zum Beispiel um zehn Prozent alle vier Jahre – abnehmen. Aber dabei wird die Industrie weiter, in unterschiedlichem Ausmaß, Arbeitsplätze abbauen, während in vielen Dienstleistungsbranchen zusätzliches Personal nötig wird. Arbeitskräfte müssen also von der Industrie- in die Dienstleistungsbranchen hinübergehen.
Man kann aber Berg- oder Hüttenarbeiter nicht einfach zu Krankenpflegern machen.
Genau das wird aber in Schweden gemacht. Nur braucht man dazu ein sehr gutes Um-, Aus- und Fortbildungswesen. Und man braucht Zeit. Deswegen kann ja auch eine zehn- oder zwanzigprozentige Arbeitszeitverkürzung, die Arbeitslosigkeit verhindern oder abbauen soll, nicht von heute auf morgen stattfinden. Um die Umstellungsprozesse planen zu können, darf sie erst ein paar Jahre nach ihrer Festsetzung in Kraft treten, wenn zusätzliche Arbeitsplätze durch sie entstehen sollen.
Für den Übergang zur 35-Stunden-Woche wurden bald zehn Jahre gebraucht. Der IG-Metall- Vorsitzende Zwickel meint, dadurch seien eine Million Arbeitsplätze gerettet worden.
Aber mehr als eine Million sind trotzdem abgebaut worden. Denn während die Arbeitszeit um rund zehn Prozent verringert wurde, hat die für eine nur langsam steigende Produktion nötige Arbeitsmenge um viel mehr als zehn Prozent abgenommen. Arbeitslosigkeit läßt sich nur verhindern, wenn die Normalarbeitszeit stufenweise im gleichen Ausmaß wie das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen abnimmt. Ich sage „stufenweise“, also etwa alle vier Jahre, denn eine unmittelbare zehnprozentige Arbeitszeitverkürzung wirkt sich ganz anders aus, als wenn man die Arbeitszeit jährlich um zwei Prozent, also 42 Minuten pro Woche oder acht Minuten pro Tag verringert. Dann wird die Arbeitszeitverkürzung gleich wieder durch Leistungsverdichtung kompensiert. Eine sukzessive Arbeitszeitverkürzung in kleinen Schritten kann deshalb auch kaum etwas zur Änderung der Arbeitsorganisation und zur Neugestaltung des Zusammenhangs von Arbeit und Leben beitragen. Kurz: Wenn die Arbeitszeit im gleichen Ausmaß wie das Arbeitsvolumen sinken würde, müßte es dabei weder zu Lohnsenkungen noch zu steigender Arbeitslosigkeit kommen. Wird dies aber über längere Zeit nicht gemacht und will man dann die entsprechende Arbeitslosigkeit schnell abbauen, müssen das bestehende Arbeitsvolumen und die bestehende Lohnsumme sozusagen rückwirkend durch eine massive Arbeitszeitverkürzung auf eine viel größere Anzahl von Arbeitenden verteilt werden. Lohnkürzungen können dann für eine befristete Zeit unumgehbar werden. Ihr Grund ist dann aber nicht die Arbeitszeitverkürzung, sondern der Umstand, daß die in den vergangenen Jahren versäumte Umverteilung der Arbeit nachgeholt werden muß.
Das ist die „Ausnahmesituation“?
Es ist die häufigste. Sie kann auch entstehen, wenn zum Beispiel die Bevölkerung plötzlich durch einen Zustrom von „Einwanderern“ schneller anwächst, als die Produktion wachsen kann.
Derzeit sind Sie also für Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich?
Für eine sehr starke Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich für die Besserverdienenden. Der größte Teil des bei starker Arbeitszeitverkürzung eintretenden Lohnausfalls kann ja von der öffentlichen Hand kompensiert werden – die durch den schnellen Abbau der Arbeitslosigkeit viel Sozialhilfe, ABM, Arbeitslosengeld und so weiter einspart.
Der Lohnausgleich kommt nicht aus der gleichen Kasse wie der Lohn, soll also nicht von den Unternehmen getragen werden?
Er soll im Prinzip auch in Zukunft nicht von den Unternehmern ausgezahlt werden, sondern von einer neuartigen Sozialkasse. Die Arbeitnehmer beziehen dann zwei Einkommen: den gemäß Tarifvertrag und Betriebsabkommen festgesetzten Lohn, der mit der Arbeitszeit auch abnehmen kann; und ein Sozialeinkommen, einen „zweiten Scheck“, der mit der Zeit zu einem immer wichtiger werdenden Anteil des Gesamteinkommens anwächst. Diese Lösung gewinnt jetzt ziemlich rasch an Boden, denn langfristig gibt es ohnehin keinen anderen Weg.
Die Sozialkassen sind bekanntermaßen schon heute ihren Aufgaben kaum noch gewachsen.
Weil ihre Finanzierung davon abhängt, wie viele Menschen beschäftigt sind und wieviel diese bezahlt bekommen. Wenn mit immer weniger Arbeit produziert wird, nimmt auch die Gesamtsumme der ausgeschütteten Löhne und Sozialabgaben ab. Wenn die Gesellschaft und die Wirtschaft nicht zusammenbrechen sollen, muß die Höhe des Einkommens von der Arbeitszeit abgekoppelt werden. In den USA und in Großbritannien gibt es jetzt schon für mehr als vierzig Prozent der Erwerbspersonen nur diskontinuierliche Teilzeitarbeit mit Teillohn. Diese Entwicklung kommt auch zu uns, die Unternehmer wollen die allergrößte Flexibilität. Deshalb muß Teilzeitarbeit meines Erachtens in ein Recht auf diskontinuierliche Arbeit und in eine Palette verschiedener gewerkschaftlich abgedeckter Zeitmodelle umfunktioniert werden. Das Verschwinden des Normalarbeitsverhältnisses kann emanzipativ in Zeitsouveränität umgewandelt werden. Wenn für die Wirtschaft die diskontinuierliche, unterbrochene Beschäftigung der Arbeitskräfte von Vorteil ist, dann gilt es, letzteren durch den „zweiten Scheck“ ein ununterbrochenes, fortlaufendes Einkommen zu sichern, das kaum unter dem normalen Volleinkommen des jeweiligen Berufs liegt. Die Bereitschaft, je nach Bedarf für kurze Zeit zu arbeiten und oft umzuwechseln, berechtigt auch zu einem gesicherten Volleinkommen: zum Beispiel 90 Prozent des beruflichen Tariflohns für 800 Stunden im Jahr oder mindestens 2.000 Stunden in drei Jahren – das entspräche der 18-Stunden-Woche, die Keynes schon 1931 prophezeite.
Noch einmal: Wie soll das finanziert werden?
Mittelfristig mit für die Betriebe kostenneutralen ökosozialen Produktsteuern, Energiesteuern, Vermögensteuern und so weiter. Aber auf längere Sicht, wenn nur noch zehn oder fünf Prozent der Erwerbsbevölkerung in der wertschöpfenden kapitalistischen Sphäre ihr Volleinkommen verdienen, werden die Geldschöpfung, die Verteilungs- und Währungspolitik auf grundlegend neuen Konzepten beruhen müssen. Darüber denken heute in Frankreich eine Reihe von Fachleuten intensiv nach.
Wäre ein Grundeinkommen oder Bürgerlohn nicht viel einfacher als Ihr „zweiter Scheck“?
Weder einfacher noch gerechter. Gegen das bedingungslose Grundeinkommen, das jetzt auch Scharpf und Mitschke [Wirtschaftsberater der SPD, d. R.] propagieren, habe ich immer folgendes eingewendet: Wenn es zu niedrig ist, erlaubt es allen möglichen Profiteuren, in Deutschland chinesische oder ukrainische Löhne für irgendwelche Drecksarbeiten zu zahlen, denn zwei Mark pro Stunde sind ja „besser als nichts“ und ohnehin nur ein „Zusatzeinkommen“. Man subventioniert also nicht die Arbeit, sondern die widerlichsten Ausbeuter. Und wenn das garantierte Grundeinkommen wirklich ausreichend ist, subventioniert und ermutigt man damit die Weigerung, überhaupt etwas zu tun. Man erlaubt dadurch den Arbeitgebern, die ganze notwendige Arbeit den Hochleistern vorzubehalten – die anderen können zu Hause bleiben oder Fußball spielen. In beiden Fällen spaltet sich die Dualgesellschaft immer tiefer. Da finde ich das dänische Modell von Frederickshavn interessanter: gesichertes ausreichendes Normaleinkommen und Pflicht zu einem begrenzten Quantum gesellschaftlich wertvoller Arbeit, die auch selbstbestimmt sein kann und den persönlichen Fähigkeiten und Neigungen Rechnung trägt.
Haben Ihre Überlegungen einen Sinn in bezug auf die sogenannten Entwicklungsländer?
Und wie! In denen gibt es heute, laut UNO, 600 Millionen Arbeitslose und, namentlich in Südamerika, bereits den jobless growth. Das Heil dieser Länder kann nicht in der Industrialisierung liegen, sondern in einer Vielfalt von lokalen Selbstversorgungskooperativen mit modernen, auch computergestützten Anlagen. Der Freihandel, der Gatt, liegt fast ausschließlich im Interesse der drei großen kapitalistischen Wirtschaftsmächte, von denen die EU eine ist. Jede der drei bedient sich nämlich der Billiglohnländer als Fußvolk im Handelskrieg gegen die zwei anderen. An die Stelle des Gatt müßte ein „globaler Pakt“ treten, wie ihn Riccardo Petrella nennt: eine Reihe von regionalen Programmen, um den „Entwicklungsländern“ zu helfen – auch finanziell –, schrittweise ökologische, soziale und menschenrechtliche Standards einzuführen. Schrittweise würden dann auch die Zollschranken abgebaut. Im gleichen Sinne brauchen Ost- und Ostmitteleuropa dringend eine Art Marshallplan, der eine ökosoziale Modernisierung unterstützt. Europa muß der globalen Verwüstung durch Wirtschaftskriege ein Zivilisationskonzept entgegensetzen. Erst dieses wird der EU ihren Sinn und ihre Identität geben. Interview: Martin Kempe
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