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Archiv-Artikel

Die Achse des Soul – von Tobias Rapp Gospel als Seelenrettung

Glaube kann ja auch Leben retten – als Al Green sich 1976 eine Kirche kaufte, um den Sonntag fortan dem Herrn zu widmen, hatte das auch ganz lebenspraktische Gründe: sein Leben als Soulsuperstar war einigermaßen aus dem Ruder gelaufen und eine Freundin hatte ihn mit kochend heißem Grießbrei übergossen und sich danach selbst erschossen. Nach und nach zog Green sich aus dem säkularen Showgeschäft zurück. Als er vor anderthalb Jahren „I Can’t Stop“ veröffentlichte, wurde das Album als Comeback gehandelt – dabei war Green nur für die Ungläubigen verschwunden gewesen (tatsächlich hat er für seine Gospeleinspielungen mittlerweile acht Grammys verliehen bekommen, für den säkularen Rest gab es gerade mal eine Nominierung). Für „Everything’s OK“, das gleichfalls großartige Nachfolge-Album, präsentiert sich Green nun auch der weltlichen Öffentlichkeit so, wie seine Gemeinde ihn kennt: als The Reverend. Ansonsten ist alles wie gehabt. Wieder haben der unvergleichliche Willie Mitchell und seine Studioband die Stücke eingespielt, die Memphis Strings veredeln das Ganze – und auch Al Greens Stimme hat nichts von ihrer verführerischen Eleganz eingebüßt. Ob es seine Coverversion des Gassenhauers „You are so beautiful“ ist oder das Schmachten des Titelsongs, das Beteuern echter Liebe in „Real Love“ oder der Schlafzimmer-Soul von „I Wanna Hold You“: diese Platte klingt so zeitlos nach den Siebzigern, als seien diese nur einen Montag entfernt.

The Reverend Al Green: „Everything‘s OK“, Blue Note/EMI

Gospel als Protestmusik

Aus der Entfernung kommt einem Gospel oft vor wie der Ursprung der afroamerikanischen Musik, die Gott zugewandte Gegenseite des Blues. Tatsächlich entstand Gospel aber als Folge der großen Migrationsströme von Schwarzen aus dem amerikanischen Süden in die Städte des Nordens: aus dem Bedürfnis der neuerlich entwurzelten Communitys nach einem identitätsstiftenden Sound. Gospel folgte einer Doppelbewegung: das Leiden in einer von Rassismus geprägten Welt kollektiv auf sich zu nehmen und in diesem ekstatischen Erlebnis der Anrufung Gottes das bessere Morgen zu fühlen.

Wie sehr die Bürgerrechtsbewegung sich diese Dynamik zu Nutze machen konnte, nachdem die Soulmusik in den späten Fünfzigern Gott durch die Welt und das Morgen durch das Heute ersetzt hatte, kann man in den Stücken der fantastischen Compilation „Soul Gospel“ hören. Gospel ist hier Protestmusik geworden. Die Sängerin Odetta covert mit „Pastures Of Plenty“ sogar ein Stück des Folksängers Woody Guthrie. Und wenn Kim Weston „Elenor Rigby“ von den Beatles covert, wird die transzendentale Obdachlosigkeit der „lonely people“ auf einmal an einem konkreten Ort verankert. Die Voices Of East Harlem schließlich, deren „New York Lightning“ die Compilation präsentiert, kamen gar nicht mehr aus der Kirche: als in den frühen Siebzigern die erste große Heroinwelle die Ghettos überschwemmte, waren sie der Jugendchor eines New Yorker Community Centers.

V. A.: „Soul Gospel“, Soul Jazz/Indigo

Gospel als gute alte Zeit

Auch in der heutigen schwarzen Popmusik finden sich noch Spuren des Gospels. Am prominentesten natürlich bei R. Kelly, doch er ist nicht der Einzige. Und anders als Kelly, der seinen Draht nach oben immer direkt nutzt, um nach Vergebung für seine Sünden zu flehen, funktioniert das Gospelerbe für Künstler wie Raphael Saadiq und Kanye West oder John Legend ein wenig anders. Sie sind Teil eines afroamerikanischen Bildungsbürgertums, für das der Gospel eine musikalische Chiffre ist. Ja, wenn John Legend seine Familie die Begleitung für sein Stück „It Don’t Have To Change“ singen lässt, steht der Gospel gar für die gute alte Zeit.

Das nimmt „Get Lifted“ allerdings nichts von ihrem Charme. Natürlich war John Legend in einem Kirchenchor. Vor allem weiß er aber, wie man Songs schreibt, die ein Gospelgefühl atmen, ohne an zeitgenössischer Popsensibilität zu verlieren. Sei es die Art, wie er seine Stimme durch Chorarrangements ergänzt und sich diese Call-and-response-Muster durch die ganze Platte ziehen, sei es sein hymnisches Klavierspiel. Doch dies sind Zeichen neben anderen – in „Alright“ wird der Bass als Reverenz an die Brass Bands von New Orleans etwa von einer Tuba gespielt. In all seiner Perfektion kommt einem das manchmal ein wenig streberhaft vor. Doch selbst diesen Einwand überspielt Legend, wenn er sich Snoop Dogg holt, der ihm in „I Can Change“ rät, mehr zu rauchen und zu trinken – wozu Legend im Hintergrund einen Gospelchor „I Can Change“ singen lässt.

John Legend: „Get Lifted“, Sony