Die Achse der Übersehenen von Tobias Rapp : Kommt, hört den Chicago-Krach
Ist diese Platte wirklich so gut? Oder ist ihr Konzept bloß so überzeugend? Für großes Aufsehen sorgte Sufjan Stevens „Come On Feel The Illinoise“ nicht, als sie im Frühsommer erschien. Doch je mehr Monate ins Land gingen, desto entschlossener entwickelte sie sich zu einer der wenigen Platten, die der Dominanz der britischen Retrorock-Bands trotzen konnte. Vielleicht geht College-Rock heute nur noch so: als perfektes Handwerk, das virtuos mit Erzählformen wie absichtlich verrumpelter Klangästhetik spielt, das sich durch die Americana-Abteilungen der College-Bibliothek genauso wühlt wie durch die Kartons mit Comics, die in Thriftstores herumstehen.
Denn „Come On Feel The Illinoise“ ist der zweite Teil von Sufjan Stevens Mammutprojekt, jedem Bundesstaat der USA eine Platte zu widmen, „Greetings From Michigan: The Great Lakes State“ von 2004 war die erste. Vom amerikanischen Bürgerkriegspräsidenten Abraham Lincoln über den Dichter Carl Sandburg bis zum Serienmörder John Wayne Gacy widmet Stevens vielen berühmten Söhnen von Illinois einen Song. Der Architekt Frank Lloyd Wright kommt genauso vor wie ein Lied über den Sears Tower, das höchste Hochhaus von Chicago, oder ein Sechs-Sekunden-Beifall für die Schlafwagen aus dem Hause Pullman. Sogar Jelly Roll Morton kommt vor, er spielte 1923 seine ersten Platten in Chicago ein.
Das Einzige, was man gegen diese Platte ins Feld führen könnte, wäre der Umstand, dass sie trotz ihrer Musikalität – Stevens lässt seine Songs von einem kleinen Kammerorchester einspielen – eigentlich eher Literatur als Pop ist: vergangenheitsverliebt und so detail- wie erzählversessen. Die nähere Gegenwart, Chicago House etwa, sucht man vergeblich.
Sufjan Stevens: „Come On Feel The Illinoise“ (Rough Trade)
Kommt, fühlt den Detroit-Sound
Man kann sie an zwei Händen abzählen, die klassischen Alben der elektronischen Tanzmusik. Während die Vergangenheit anderer popmusikalischer Genres sich gerne und ohne größere Schwierigkeiten über Alben erzählen lässt, finden sich die Klassiker des Techno und House auf Maxisingles. Carl Craigs „Landcruising“ von 1995 ist eine der Ausnahmen – ein Konzeptalbum über eine Nachtfahrt durch Detroit, vom Klang eines anspringenden Motors und klickenden Sicherheitsgurten am Anfang des ersten Stücks über die kalten, an Kraftwerk erinnernden Synthie-Flächen, die sich durch jedes Stück ziehen, bis zu Tracktiteln wie „Einbahn“ oder „Mind Of A Machine“.
So machte es zunächst misstrauisch, als im Sommer dieses Jahres, „The Album Formerly Known As …“ erschien, Carl Craigs Bearbeitung von „Landcruising“. Eine Hand voll wunderbarer Maxis und Remixe waren vorher herausgekommen, und ein wenig fragte man sich, ob das nun wirklich nötig sei: Warum bringt er nicht ein neues Album raus? War „In The Mix“ nicht eine ziemliche Enttäuschung gewesen, die Platte, auf der Kraftwerk 1991 versuchten, ihre Stücke dem digitalen Zeitalter anzupassen? Kann man an Perfektion herumfrickeln, ohne sie zu zerstören?
Man kann. Man kann sie sogar verbessern. Zum Beispiel, indem man sie verlängert: Fast doppelt so lang wie das Original ist der Edit geworden, und wenn gegen den Titeltrack „Landcruising“ im Original nur sprach, dass er mit knapp über drei Minuten zu enttäuschend kurz war, um einen in die Nachtfahrt hineinzuziehen, so ist er nun weit über sechs Minuten lang. Toll. Und hört sich besser an – die Pianolinien funkeln nun wie Sterne neben den neonerleuchteten Synthesizerflächen.
Carl Craig: „The Album Formerly Known As …“ (Planet E/Rough Trade)