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Archiv-Artikel

Dichter in Dünen l Eine schöne Geschichte

Der österreichische Schriftsteller Franzobel lebt und arbeitet im Rahmen eines Literaturstipendiums für einige Wochen auf der Insel Sylt. Er ist in diesem Jahr der so genannte Inselschreiber von Sylt, ist ansonsten aber eher als wilder Alpendichter mit barocker Fabulierlust bekannt. Das Stipendium bekam er für eine Text zum Thema „Moderne Märtyrer“. In der taz nord wird regelmäßig zu lesen sein, was Franzobel auf der Insel widerfährt

Plötzlich war da dieser Inder mit langem weißen Haar, wallenden karminroten Gewändern, ziegelroten Tüchern und einem breiten, sanftmütigen Lächeln im Gesicht. Wie eine Kirsche auf der Torte saß er in den Dünen und ertrug gutmütig die gestreckten Kinderzeigefinger, Hohngelächter und das Mama-guck-mal-was-der-Mann-da-hält-Geschrei. Was hielt er denn? Einen großen braunen Teddybären. Die meisten, die ihn sahen, dachten wohl, er sei verrückt. Ein Inder samt Teddybär? Auf Sylt? Was sollte das bedeuten? Reichte nicht der Wind, das Meer, der Wolkenvorhang, der sich immer wieder vor die Sonne schob?

Mir fallen beim Anblick dieser ungeheuren Wassermassen, dieser auratischen Momente, die das Himmelstheater da zum Besten gibt, stets die gleichen Inder-, nein, Kinderfragen ein – wie etwa die des gleichnamigen Bestsellers von Brigitte Schwaiger, der da heißt: Wie kommt das Salz ins Meer? Hat Gott, dieser Salsa tanzende Salzbaron, der Schöpfung die Suppe Meer versalzen? Besitzt die Erde große Schweißdrüsen, aus denen sie vom vielen Runden drehen schwitzt? Oder stammt das Salz von Gastronomen, die so ihren Müll entsorgen?

Manche meinen ja, es sei schon immer da gewesen, ein Salz des Ursprungs. Ich aber schwöre Salz und Pfeffer, es stammt vom Schweiß der ungezählten Tiere, die das Meer seit Jahrtausenden beschwitzen. Aber transpirieren wir im Wasser überhaupt? Ein Hautarzt, den ich diesbezüglich frage, bekommt gleich nasse Achseln; er weiß es nicht. Der Schweiß dient zum Wärmeaustausch, wenn der Körper Kühlung sucht. Aber im Wasser? Sind wir überhaupt dicht? Warum fließt, wenn wir ins Wasser gehen, nicht unentwegt etwas in uns hinein? Weil wir eine Haut haben – unser größtes Organ – haut der Dermatologe in der hautengen Haute Couture auf den Tisch. Gibt es Tiere ohne Haut? Lebt der Mensch, wenn er nichts zu trinken bekommt, im Wasser länger als an Land?

Kaum bin ich am Meer, tauchen lauter solcher Fragen auf, bedecken mich wie Milchhaut den Kaffee. Selten fällt mir eine Antwort ein, aber gerne rühre ich drin um. Warum hat jeder Mensch einen anderen Fingerabdruck, aber die gleiche Körpertemperatur? Warum küssen wir uns? Küssen sich auch Tiere? Mir fallen nur die Vögel ein, die sich gegenseitig in den Schnabel kotzen. Im Sand sehen ihre Fußabdrücke – sagt man das bei Vögeln? Oder heißt es Krallen-, Keulen-, Stelzenabdruck? – jedenfalls sehen die wie Pfeile, die in die falsche Richtung zeigen, aus. Hängt die Richtung der Haarwirbel von der Corioliskraft ab – wie bei den legendären linksdrehenden Klospülungen in der südlichen Halbkugel? Und was bedeutet Tan? Ein Gott des Geldtransfers? Woher kommt das Wort Kreissaal? Warum erscheint der Mond beim Aufgehen größer?

Aufgewühlt von diesen Fragen hätte ich den Inder fast vergessen. Zumindest das Rätsel seines Teddybären wollte ich ergründen. Aber was, wenn er ein richtig Durchgeknallter war? Konnte man denn einfach hingehen und so etwas fragen? Vielleicht war es ihm peinlich? Gab es nicht Erwachsene, die ihren Stofftieren kindisch verbunden waren? Oder war das eine Form indischer Psychotherapie? Knut-Voodoo? Wollte er damit die Sylter provozieren? Die Touristen?

Ich beobachtete die Möwen, die in den Dünen saßen wie Kokosstreusel auf einem Pistazienkuchen, überlegte wie die überall blühenden Sträucher hießen, kam auf Erika, hielt die Wildrosen für Hagebutten, sah einige Nacktbader, Hunde, denen der Wind das Fell über die Ohren zog, Menschen in Strandkörben, kleine Löcher im Sand, überlegte, welche Tiere darin wohnen mochten, spürte Salz auf meinen Lippen kam auf das schöne dazu diametrale Wiener Wort „Zuckergoscherl“, das heute Leute mit süßen Mündern bezeichnete, Leckermäuler, tatsächlich aber aus dem Rotlichtmilieu stammte: Wenn eine Prostituierte aufmüpfig war, wurde ihr Gesicht zerschnitten und zur besonderen Narbenbildung Zucker in die Wunde gestreut. So sind die Österreicher, verharmlosend, charmant, gemein.

Aber nicht feig. Schließlich raffte ich mich auf, ging zu dem Inder, verneigte mich, stellte mich vor, sprach ein wenig über das Wetter, Yoga, Sylt und meiner Sehnsucht nach Indien, bevor ich zu der heiklen Frage nach dem Teddybären kam. „Ach der“, lächelte der Inder, „gehört einem kranken Buben, der mich auf meinem Urlaub hier begleiten sollte. Aber da das wegen der schweren Krankheit nun nicht geht, habe ich seinen Teddy mitgenommen, damit ihm der später alles ganz genau erzählen kann.“

Eine schöne Geschichte, dachte ich mir, und dass die Antworten auf viele Fragen doch sehr einfach sind, wenn man nur fragt. FRANZOBEL