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Detlef Diederichsen Böse MusikDie Angstblüte der „Greatest Hits“-Alben

Foto: privat

Wir armen, armen Boomer, wir! Stück für Stück demontieren sie uns unsere kuschelige „Truman Show“-Idylle, nehmen uns alle Gewissheiten, Utopien, Werte und: ja – auch den ganzen Spaß und stoßen uns in ein finsteres, stinkendes Schlammloch der Unsicherheit, Existenzangst und Gewissensnot. Eigentlich bleibt einem nur noch das Wegtauchen in die Vergangenheit, in die herrlich analogen Zeiten unserer Jugend, als man sich maximal darüber aufregen konnte, dass „graue B-Film-Helden“ (Peter Hein) die Welt regieren. Hach!

Aber die Zerstörung unserer Existenz geht weiter und die Sadisten da oben nehmen jetzt gezielt unsere letzten kleinen treuen Freunde unter Feuer, die, die immer für uns da waren. Aktuell: das „Greatest Hits“-Album. Ich bin ja unter hysterischen Musiknerds aufgewachsen, deswegen weiß ich vieles nicht, was außerhalb dieser Blase normal oder wichtig ist bzw. war. Ich persönlich besitze genau ein „Greatest Hits“-Album („The Best Of Bill Withers“). Ein Jugendzimmer, in dem vor dem Plattenspieler „Simon & Garfunkel’s Greatest Hits“ stand, habe ich seinerzeit immer schnell wieder verlassen. Aber aus der Ausgabe Nr. 35 von „Shoddy Goods“, dem Newsletter von Meh, einer texanischen „community for the cynical consumer“, habe ich gelernt, dass viele Music Lover, darunter sogar solche, die diese Liebe zum Beruf gemacht haben, ihre tiefere Beziehung zur Musik solchen Hit-Compilations verdanken.

„Als Knabe war mein Budget für Musik so gering, dass ich es größtenteils für 'Greatest Hits-Alben ausgab, um sicher zu sein, dass ich keine Platte voller Füllmaterial bekam, nachdem ich den einen tollen Song im Radio gehört hatte“, schreibt „Shoddy Goods“-Autor Dave Rutledge. Und er verweist auf die Guardian-Autorin Annie Zaleski, die angibt, REMs Eponymous“, Depeche Modes Catching Up“, The Smiths’ Best 1“ und Duran Durans Decade“ seien drei der einflussreichsten Alben ihres Lebens gewesen, und zitiert den Buchautor und Rolling Stone-Mitarbeiter Dan Epstein: „Ich lernte Gitarre zu The Whos ‚Meaty, Beaty Big And Bouncy‘, The Byrds’ ‚Greatest Hits‘ und ‚All Wrapped Up: The Best of The Undertones‘.“

Detlef ­Diederichsen, Journalist und Musiker, lebt in Hamburg

Die junge Generation (bei welchem Buchstaben sind wir eigentlich gerade? Generation µ?) wird keine Möglichkeit mehr haben, Gitarre zu lernen. Auf den ersten Blick mag es zwar so wirken, als sei das Hits-Compilation-Format erfolgreicher denn je – im März 2025 befanden sich 32 solcher Alben in den „Billboard“-Top-200, im März 1990 waren es nur 13, wie „Shoddy Goods“ recherchierte. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es sich hierbei wohl eher um das handelt, was im Pflanzenreich „Angstblüte“ genannt wird: Wenn man merkt, dass es zu Ende geht, treibt man schnell noch mal ein paar Blüten aus, um womöglich einen letzten Fortpflanzungserfolg zu erzeugen. Denn Künst­le­r*in­nen unter 50 weigern sich, solche Compilations auf den Markt zu bringen, die genannten 32 „Billboard“-Erfolge stammen fast ausschließlich von Künstler*innen, die schon ewig dabei sind (12 von Künstler*innen, die ihre Karriere vor mehr als 50 Jahren starteten). Taylor Swift, Bruno Mars, Harry Styles, noch nichtmal Beyoncé, Lady Gaga oder Justin Timberlake haben je eine Hits-Compilation veröffentlicht. It’s the streaming economy, stupid – gerne stellen sie stattdessen thematisch oder nach Schaffensphasen sortierte Listen für die Portale zur Verfügung. Aber solche Listen kommen und gehen, sind flüchtig, es fehlt ihnen das Kanonhafte. Eigentlich kann sich je­de*r Hö­re­r*in selbst solche Listen basteln (und tut es auch).

Taylor Swift, noch nicht mal Beyoncé oder Justin Timberlake haben je eine Hits-Compilation veröffentlicht

Aber den Boomer*innen, die angesichts dieser Entwicklung schon die großen Tränentücher hervorziehen, sei gesagt: Es kommt immer noch schlimmer. Nächster Halt: der Untergang des Band-Formats …

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