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Archiv-Artikel

Der blinde Bibliothekar von Buenos Aires

Fabelwesen, Himmel und Hölle, von Träumen träumen: Die „Anthologien“ von Jorge Luis Borges sind neu erschienen

Eine der größten Ungerechtigkeiten der Weltliteratur hat Umberto Eco begangen. Für jedermann leicht erkennbar, ist in „Der Name der Rose“ der böse Bibliothekar Jorge von Burgos, der „blinde Seher“, wie er im Personenverzeichnis genannt wird, Jorge Luis Borges nachgebildet. Burgos reißt am Ende nicht nur die Bibliothek, die er so eifersüchtig hütet, ins Unglück, sondern die ganze prachtvolle Abtei.

Nun hält sich Ecos Unrecht zwar insofern in Grenzen, als Burgos der einzig ernst zu nehmende Gegenspieler des klugen William von Baskerville (und diesem vielleicht sogar überlegen) ist. Sein Vergehen besteht aber darin, dass der blinde Bibliothekar der Benediktinerabtei vor allem anderen das Lachen hasst und den Blicken der Mönche Aristoteles’ verschollenen Text über die Komödie und das Lächerliche entziehen will. Das hätte der blinde Bibliothekar von Buenos Aires niemals getan, denn der verfügte über sehr viel Humor.

Das lässt sich nicht nur an vielen seiner Erzählungen und Essays ablesen, sondern vor allem auch an den drei Anthologien, die jetzt im Rahmen der Hanser-Werkausgabe in einem Band erschienen sind. Im Einzelnen handelt es sich um das „Handbuch der phantastischen Zoologie“, zuerst erschienen 1957, „Das Buch von Himmel und Hölle“ (1960) und das „Buch der Träume“ (1976). In Borges’ fabelhafter Zoologie erfährt etwa der Besucher amerikanischer Cafés, was Brownies auch noch sein können: „Brownies sind dienstbare Männlein von hellbrauner Farbe, von der auch ihr Name herrührt. Sie pflegen schottische Bauernhöfe zu besuchen und häusliche Arbeiten zu erledigen, während die Familie schläft.“ Dass die Kölner Heinzelmännchen ursprünglich aus Schottland kamen, habe ich noch nicht gewusst. Die Rede ist in diesem Bestiarium aber auch von bekannteren Wesen wie dem Einhorn oder dem Phönix, von Trollen und Nymphen und natürlich von dem merkwürdigsten und zugleich liebenswürdigsten Fabelwesen der Weltliteratur, Kafkas Odradek.

Dass die Vorstellungen zu Himmel und Hölle unterschiedlich intensiv und also diejenigen der Hölle meist wesentlich plastischer sind, verwundert nicht. Wie beide im Verhältnis zueinander und zu unserer Welt stehen, hat Borges kurz und bündig bei Samuel Butler gefunden: „Der Himmel ist das Werk der besten und gütigsten Männer. Die Hölle ist das Werk der Eingebildeten, der Pedanten und derer, die gerne Wahrheiten von sich geben. Die Welt ist ein Versuch, die einen wie die anderen zu ertragen.“ Vor allem die Tatsache, dass die Verkünder von Wahrheiten in die Hölle kommen, lässt mich dann doch an Gerechtigkeit glauben. In dieser Anthologie fehlt naturgemäß, da schon 1960 erschienen, die Beschreibung des Himmels, die knapp 20 Jahre später die Talking Heads in ihrem Album „Fear Of Music“ gegeben haben, sie sei deshalb hier nachgeliefert: „Heaven is a place where nothing ever happens.“

Wenn Träume in einem Roman oder einer Erzählung vorkommen und Bedeutung transportieren sollen, geht das leicht daneben. Ganz anders verhält es sich mit der Literatur über Träume oder solchen Stücken, deren gesamte Strecke ein Traum ist, wie Lewis Carrolls Alice-Erzählungen. Dann kann innerhalb des Traums der Traum als solcher noch einmal reflektiert werden, wie etwa in Alice hinter den Spiegeln: „Er träumt. Von wem träumt er? Weißt du es?“ „Das weiß keiner.“ „Von dir träumt er. Und wenn er aufhört zu träumen, was wäre dann mit dir?“ „Ich weiß es nicht.“ „Du würdest verschwinden. Du bist eine Gestalt in seinem Traum. Wenn dieser König erwachte, würdest du ausgehen wie eine Kerze.“

Mit den Anthologien ist die Borges-Ausgabe beinahe abgeschlossen; es fehlen nur noch zwei Bände. Bedenkt man, dass diese Ausgabe sich kaum verkauft, ist das verlegerische und übersetzerische Unternehmen mehr als verdienstvoll. Mit einer Einschränkung: Allen diesen Bänden, bei denen in den Anmerkungen zu blättern oft mehr als nur Liebhaberei ist, fehlt ein Lesebändchen. Das hätte man einem so großen Autor schon gönnen dürfen.

Warum soll man ihn lesen? Weil er, im Gegensatz zu Jorge von Burgos, Humor und eine grenzenlose Phantasie hat. Und weil es gut tut, nach all den teils öden, teils gelungenen neuen Realismen und Thomas-Mann-Revivals, die brav „gesellschaftliche Wirklichkeit“ abbilden, wieder einen Autor zu lesen, der das tut, was Literatur eigentlich tun sollte: Welt nicht abbilden, sondern neue Welten schaffen, zum grenzenlosen Vergnügen des Lesers. JOCHEN SCHIMMANG

Jorge Luis Borges: „Die Anthologien“. Übersetzt von Gisbert Haefs, Maria Bamberg, Ulla de Herrera und Edith Aron. Hanser, München 2008, 649 Seiten, 27,90 Euro