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taz FUTURZWEI

Der Westen und der Überfluss Opfer seiner Träume

Wie wird man die Träume wieder los, die einem schaden? Für taz FUTURZWEI denkt der Kulturwissenschaftler Jörg Metelmann über die wohl gefährlichste Loyalität des Westens nach – die zu seinen Wünschen und Utopien.

Im Bild: Christian Lindners (FDP) Hochzeitsauto, oder auch: der feuchte Traum des fossilen Zeitalters Foto: Foto: dpa/Axel Heimken

taz FUTURZWEI | Die Zukunft war auch schon mal besser. Das hört man immer wieder in den letzten Monaten. Erst der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, dann der Überfall der Hamas auf Israel, dazu der andauernde Handelskrieg zwischen China und den USA. Und dann sind da, neben diesen bedrohlichen Entwicklungen, ja auch noch die Risiken der eigenen Lebensform, deren Konsum-Ökonomie an ihre planetaren Grenzen stößt.

Nicht nur die Klima-Jugend ist auf der Straße, auch breiteren Bevölkerungsschichten dämmert, dass es eines nachhaltigeren Verständnisses von Wachstum, Freiheit und Gemeinschaft bedarf. Es jedoch in die Praxis umzusetzen, zumal in diesen Krisenzeiten, scheint selbst Befürwortern unmöglich: »Das Projekt ›Degrowth‹ ist eine Utopie«, schreibt etwa der Postwachstumsökonom Serge Latouche.

Warum aber ist das so? Oder genauer: noch immer so?

Seit dem Club-of-Rome-Bericht »Die Grenzen des Wachstums« (1972) wird darüber gesprochen. Konkrete Alternativen sind lange bekannt (Steady-State-Ökonomie, Circular-Economy, Gemeinwohlökonomie, Donut-Ökonomie). Liegt die Antwort im Neoliberalismus begründet, der das soziale Band der Gesellschaft durch Privatisierung zertrümmert?

Unsere Wunschfantasien

Wurzelt die Lebensfeindlichkeit, die sich im maßlosen Ressourcen-Abbau und dem Artensterben zeigt, im kapitalistischen »Phantombesitz«, wie die Philosophin Eva von Redecker meint? Oder geht die Krise sogar noch tiefer bis in die Perversion, dass Beziehungen von Gewalt und Herrschaft für uns zivilisatorische Normalität geworden sind, wie die Anthropologen David Graeber und David Wengrow festhielten?

Ich glaube, ein möglicher anderer Grund ist zugleich einfacher und komplexer. Er liegt in unseren utopischen Loyalitäten, womit ich meine, dass wir emotional so tief in unsere Wunschfantasien eines guten Lebens verstrickt sind, dass wir sie nicht von heute auf morgen loslassen können.

Der westliche Lifestyle ist affektiv an die Vorstellung einer Zukunft ohne Knappheit gebunden, die man als Ur-Utopie schon im Gründungsbuch von Thomas Morus lesen kann – und die sich im Wohlfahrtsstaat für viele realisiert hat. Der tief empfundene Dank für den breit angekommenen Überfluss schafft eine starke Loyalität, das heißt eine gewachsene Bindung, die sowohl rational als auch gefühlsmäßig ist. Die Shopping Malls sind gefühlt immer voll (ich dachte, die sterben wegen Internet-Shopping?), das zählt viel.

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Treue zu den Wunschwelten

Mit anderen Worten: Es ist nicht das von Transformationsberatern vielbeschworene Mindset allein, das die Menschen bei der Stange hält, sondern die Treue zu seinen Wunschwelten. Ein gutes Beispiel ist die liberale Vorstellung, dass ein freier Markt in Kombination mit Arbeitsteilung, Spezialisierung und Tauschökonomie zu Wachstum und Wohlstand führt.

Auch wenn es sich streng genommen um ein Bündel von Konzepten handelt (neoklassische Ökonomie), also begriffliches Wissen, so steht die nüchterne Theorie doch für wesentlich mehr. Sie umfasst imaginäre Elemente des Wünschens und Träumens, Geschichten von Aufstieg (»Tellerwäscher«) und vor allem Emotionen (Angstlosigkeit, Anerkanntsein, Glück). Die starke Bindung an ein ganzes Gefühlsszenario führt dazu, dass man bei aller Kritik am System der »liberalen Utopie«, so Friedrich Hayek selbst, festhält.

Dieses Festhalten auch gegen argumentativen Einspruch, steigende soziale Ungleichheit und Bankenkrisen zeigt die Dynamik der Loyalität, die in extreme Identitätskonflikte führen kann. Etwa wenn man von »grünem Wachstum« spricht, weil man vom Wachstum nicht lassen kann, aber eigentlich weiß, dass es nachhaltig so nicht funktionieren kann. Wie Leim klebt die »Mehr«-Vorstellung die Gesellschaften des Westens zusammen und es ist schwer, sich diesem sozialen Kitt zu entziehen, will man nicht gänzlich draußen stehen, da, wo nur die neuen Hoffnungen wohnen (wie Latouche schreibt).

Glaube an Wachstum

Zum Westen als Gefühlsszenario gehört aber nicht nur der Glaube an Wachstum. Dieses ist stets verbunden mit der Utopie technischen Fortschritts. Diese fand ihren ersten Ausdruck in Francis Bacons Nova Atlantis von 1626, in dem der britische Philosoph nichts weniger als Wetter-Manipulation, künstliche Düngemittel und medizinische Lebensverlängerung beschreibt – zur Zeit des Mordens im Dreißigjährigen Krieg wohlgemerkt.

Der Philosoph des Prinzips Verantwortung, Hans Jonas, definierte dieses »Bacon‘sche Programm« als die Idee, »das Wissen auf Herrschaft über die Natur abzustellen und die Herrschaft über die Natur für die Besserung des Menschenloses nutzbar zu machen«. Es ist die Logik des technisch Möglichen, die den Menschen treibt und nicht umgekehrt. Der Mensch heute, schreibt Jonas schon Ende der 1970er-Jahre, lebe »im Schatten ungewollten, miteingebauten, automatischen Utopismus«, das heißt, er müsse sich ständig zu einem mächtigen Untersog der gesellschaftlichen Entwicklung verhalten – aktuell etwa zu neuen Formen künstlicher Intelligenz, die in rasender Geschwindigkeit auf den Markt drängen.

Diese Innovationskultur deutet schon auf den dritten Strang westlicher DNA: Bildung. Damit ist nicht das PISA-geschockte und soziale Ungleichheit verstetigende Schulsystem gemeint, sondern die Idee, sich die Welt durch eigene Kreativität neu modellieren zu können – ursprünglich war Bildung der Prozess, in dem sich der Mensch gottähnlich bildet, nach dem imago dei. Nun bildet er die Welt nach seinen Fantasien.

Walt Disney

Die kürzeste Formel für diese Verbindung von Vorstellung, Technik und Umsetzung ist das Imagineering der Walt Disney Corporation getreu der Formel: »Wenn ich es träumen kann, dann kann ich es auch tun.« Sie ist als griffige Verbindung von drei leitenden Fiktionen des Westens so etwas wie sein emotionaler Kern, der härteste Glaubensinhalt.

Doch kann diese Erfolgsformel des Globalen Nordens nur funktionieren, wenn zwei weitere Rahmungen gegeben sind, die das westliche Gefühlsszenario grundieren: der Universalismus und der Wert des Einzelnen. Zum einen ist seit den neuzeitlichen Revolutionen in den USA und in Frankreich die Idee von allgemeinen Menschen- und Bürgerrechten die Mitte eines republikanischen Gefühls, das sich zum Beispiel auch im »Verfassungspatriotismus« à la Jürgen Habermas findet. Eine Loyalität zu den universalen Normen, die jedes Zusammenleben – selbst jenes von Kants berühmtem Volk von Teufeln – grundieren und nur so eine wirklich offene Gesellschaft ermöglichen. Aus genau diesem Gefühl heraus sind Hunderttausende Menschen Anfang des Jahres auf die Straße gegangen, um gegen rechten Partikularismus (des Volkes, der Deutschen) zu demonstrieren.

Zum anderen ist die Freiheit, die die Individuen für sich in Anspruch nehmen und aushalten können müssen, ein vielfach besungenes Grundgefühl des Westens. Es trennt in aktuellen Konflikten zum Beispiel mit China die Welt des Westens ebenso stark vom asiatischen Gegenüber wie der Universalismus oder die Bildung als kreatives World-Making (man denke nur an den höheren Wert des Kopierens im Fernen Osten). Auch wenn sich Renditeorientierung und technologischer Drift global anverwandeln lassen, machen doch die anderen utopischen Loyalitäten sehr genau deutlich, wo man sich jeweils fremd und unverstanden fühlt.

Opfer

In der Verhaltenspsychologie wurde vor einigen Jahren diese Fixierung auf die Eigenschaften »western, educated, industrialized, rich, democratic« – kurz: WEIRD – als falsche Normierung kritisiert, da die meisten Menschen auf der Welt eben gar nicht »weird« seien.

Für unsere Zwecke ist dieses Schema aber hilfreich, denn in der Verbindung mit den Loyalitäten lässt sich die eingangs gestellte Frage nach dem »Warum ist das so?« beantworten: Die zentralen Utopien, also die Wunschwelten der Vergangenheit, haben sich im Westen realisiert. Nicht für alle und nicht überall gleich, aber im kollektiven Gefühlshaushalt haben sich die Bilder des Wohlstands, der Herrschaft, der Freiheit und ihrer Rechtssicherung fest verankert. So fest, dass sich niemand wirklich vorstellen kann, wie man aus diesem Gefühlsszenario ausbrechen kann, obwohl kognitiv die Notwendigkeit evident ist.

Kurz: Der Westen ist Opfer seiner eigenen Träume geworden, an die er sich klammert wie an eine große Liebe. Bis eine neue Utopie mit einer neuen Hoffnung kommt, wie Serge Latouche meint, wird noch einige Zeit vergehen. Denn: Loyalitäten sind stark.

JÖRG METELMANN lehrt Kulturwissenschaft an der Universität St. Gallen. Dieser Beitrag ist in unserem Magazin taz FUTURZWEI erschienen.