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Archiv-Artikel

Der Stellenschwund am Arbeitsmarkt zwingt zu höheren Steuern Der Schein trügt gewaltig

Ein Mann, eine Ausflucht: Einmal im Monat muss Superminister Wolfgang Clement die Arbeitslosenzahlen kommentieren – und jedes Mal sucht er einen Grund, warum die Statistik eigentlich gar nichts aussagt. In Varianten trägt er seine Lieblingsthese vor, dass viele angeblich Arbeitslose eigentlich überhaupt nicht arbeitsfähig oder arbeitswillig seien. Und dann tauchen sie wieder auf, die bekannten Beispiele: Die Mutter mit den drei Kindern oder die Schwerkranken, die als vermittelbar eingestuft wurden. Zwanzig Prozent soll dieses „Fehlerpotenzial“ betragen. Implizite Botschaft: In Wahrheit sind wir der Vollbeschäftigung viel näher als wir glauben.

Auch andere Statistiken hat der Wirtschaftsminister noch in petto: So freute er sich gestern, dass 38,98 Millionen Erwerbstätige gezählt werden konnten – dies sei der höchste Stand seit drei Jahren. Dabei ging jedoch unter, dass dieser Zuwachs rein künstlich ist, werden doch auch alle subventionierten Ich-AGs und Ein-Euro-Jobber mitgerechnet. Die Arbeitslosenzahlen werden so zur Fantasie-Erhebung: Inzwischen gibt es Scheinselbstständige, Scheinangestellte und außerdem angebliche Scheinarbeitslose. Sie alle werden in die Statistik rein- oder rausgerechnet, wie es gerade passt.

Nur eine Angabe lässt sich nicht manipulieren: die Zahl der voll sozialversicherungspflichtigen Stellen. Davon gibt es noch 26,15 Millionen – 330.000 weniger als vor einem Jahr. Das ist dramatisch, denn es sind diese Jobs, die den Sozialstaat finanzieren. Auf diesen Abwärtstrend sollten sich die Parteien konzentrieren.

Der Schwund der echten Stellen lässt sich zwar nicht aufhalten, denn der Produktivitätsfortschritt liegt in Deutschland deutlich höher als das Trendwachstum. Doch umso dringender stellen sich Finanzierungsfragen. So ist offensichtlich, dass die Sozialversicherungen möglichst schnell durch Steuern gestützt werden müssen. Es wird sich gar nicht vermeiden lassen, neben der Mehrwertsteuer auch die Einkommenssteuer zu erhöhen. Das ist natürlich unangenehm für die Parteien, die sich gerade erst als Steuersenker profilieren wollten. Da ist es viel bequemer, sich über die Arbeitslosenstatistik zu streiten. ULRIKE HERRMANN