Der Lars von Trier des House? Sample-Dogmatiker Matthew Herbert mit seinem Big-Band-Projekt beim SHMF auf Kampnagel : „Unter der Oberfläche der Musik entfaltet sich ihre Geschichte“
Nach an der Musique Concrète geschultem House und globalisierungskritischem Elektro hat sich der englische Produzent und Musiker Matthew Herbert einem anderen Konzept zugewandt: Goodbye Swingtime heißt sein vor kurzem veröffentlichter Versuch eines ganz und gar nicht nostalgischen Big-Band-Formats. taz hamburg sprach mit Herbert über die Schwierigkeit, explizite Inhalte durch Musik zu vermitteln, und MTV in den Zeiten des Krieges.
taz hamburg: Sie verstehen sich als politischer Mensch – Ihren House-Alben oder auch der aktuellen Big-Band-Jazz-Platte hört man das nur wenig an.
Matthew Herbert: Als Mensch war ich schon immer politisch, als Künstler war ich es – zumindest am Anfang – weniger. Meine Musik war politisch in der Weise, wie sie vertrieben wurde. Eine Platte unter dem Pseudonym „Radioboy“ wurde unter Umgehung der üblichen Vertriebsstrukturen kostenlos verteilt. Man musste dafür zu unseren Konzerten kommen oder einen frankierten Briefumschlag schicken oder sie aus dem Internet runterladen. Doch egal auf welchem dieser Wege das Publikum an die Musik kam, es musste zuvor Interesse entwickeln und sich mit deren Inhalt beschäftigen. Der Vertrieb wurde auf diese Weise zum eigentlichen politischen Aspekt – leider bin ich nicht in der Lage, all meine Musik zu verschenken.
Die entscheidende Wende kam mit einem Remix, den ich mit dem kalifornischen Soundkünstler Matmos machte. Er basierte auf der Tonaufnahme einer Nasenoperation, die ein Schönheitschirurg durchführte. Ich versuchte, diese Geräusche auf meine Weise zu verwenden, aber das wollte nicht funktionieren. Die Musik, die daraus entstand, klang sehr aggressiv. Mir wurde klar, dass der Beweggrund für eine solche Nasenoperation schrecklich ist. Das Geld, das in eine solche Operationen fließt, wäre für eine weltweite Gesundheitsversorgung besser angelegt. Die Erkenntnisse, die ich daraus für meine Musik zog, finden sich jetzt auch auf meiner Big-Band-Platte wieder.
Ich verwende keine Samples anderer Musikstücke. Stattdessen benutze ich Sounds von Leuten aus allen Teilen der Welt, die ihre Telefonbücher auf den Boden schmeißen. Damit ist ein Track entstanden, auf dem man quasi 14 Millionen Menschen hören kann. Darüber hinaus habe ich die Geräusche bestimmter politischer Texte verwendet, die auf dem Cover der Platte aufgelistet sind. Oder den Klang eines Druckers, der eine politische Website ausdruckt. Für den Hörer mag das nicht sehr offensichtlich sein, aber ich sehe keinen Grund, weshalb ich offensichtlich sein muss. Wenn man bean der Oberfläche der Musik zu kratzen beginnt, entfaltet sich deren Geschichte. Man sollte nicht erwarten, dass einem explizite Bedeutungen gleich beim ersten Hören mitgeteilt werden.
Sie haben ein Manifest dagegen veröffentlicht, von anderen Musikern oder alten Platten zu sampeln. Diese Arbeitsweise wurde von postmodernen Theoretikern aber als zeitgemäß gefeiert ...
Postmodernismus hat in vieler Hinsicht interessante Dinge zu sagen, aber ich mag es überhaupt nicht, wie heute mit Kultur umgegangen wird. Wenn man in einem Club Live-Video-Mixe sieht, die etwa Bildmaterial aus dem Club verwenden oder Reklame und Fernsehsendungen, dann erscheinen die Quellen völlig bedeutungslos. Das ist symptomatisch für ein Versagen des Postmodernismus. Wenn ich heute, in Zeiten des Krieges, MTV sehe, dann möchte ich wissen, in welcher Beziehung die Musik dazu steht. Indem gesagt wird, alles sei subjektiv, ist eine gemeinsame Diskussionsgrundlage abhanden gekommen, auf der sich so etwas wie Moral begründen lässt. Ohne Moral aber kommt man in eine Lage, wo Amerika in den Krieg zieht – und einige Leute kein Problem damit haben.
Warum, glauben Sie, hat sich Tony Blair so entschieden auf Kriegskurs begeben?
Eine wirklich schlüssige Erklärung kann ich dafür nicht geben. Am meisten macht mich die Begründung wütend, Saddam Husseins Regime sei keine Demokratie gewesen und wir würden ein besseres System bringen. 70% der Briten waren gegen den Krieg, Blair hat sie ignoriert. Das ist keine Demokratie.
INTERVIEW: NILS MICHAELIS
„Sonar Sound“ mit Matthew Herbert Big Band, The Wire Soundsystem (Rob Young, Anne Hilde Neset), Martin at Jazz, Brooks, Andrew Weatherall und Keith „Radioactive Man“ Tenniswood: Freitag, 21 Uhr, Kampnagel