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Archiv-Artikel

■ Der Historiker Götz Aly behauptete in einem taz-Interview: „Den einfachen Leuten ging es im Nationalsozialismus gut. Sie haben gerne mitgemacht und vom Krieg profitiert“ Der Korrumpierung widerstanden

betr.: „Der Holocaust geschah zum Vorteil aller Deutschen“, taz vom 15. 1. 05

Das deutsche Volk ist dem Naziregime in seiner übergroßen Mehrheit gefolgt – als Anhänger oder Mitläufer der braunen Revolution. Die Sozialpolitik der Nazis gehört zu ihrer Erfolgsstory. Und Menschenmassen handeln nach Interessen. So weit, so richtig.

Dennoch hinterlässt der Interviewbeitrag von Götz Aly in der taz einen bitteren ideologischen Nachgeschmack. Ich weigere mich, Opfer und Täter, Mitläufer und Opportunisten in einen Topf zu werfen. Meine Großmutter gehörte dem deutschen Widerstand gegen Hitler an (Widerstandsgruppe „Sozialistische Front Hannover“) und saß dafür im Zuchthaus. Meine Mutter war ebenfalls dort eingebunden. Ihr wurde die Jugend gestohlen. Sie alle waren Deutsche einfachen Standes. Offensichtlich war der deutsche „Volkskörper“ nicht so einheitlich wie der Autor schaut, und der bescheidene Widerstand ebenfalls ein soziales und kulturelles Phänomen, das der „Korrumpierung“ widerstanden hat. Meine Familie ist nie auf den Gedanken gekommen, eine „Kollektivschuld“ des deutschen Volkes zu konstruieren. Dafür waren die soziale und politische Wirklichkeit, die gesellschaftlichen Widersprüche viel zu komplex. Auch ein seriöser Autor wie Götz Aly sollte historische Tatsachen, die nicht in sein Raster passen, zur Kenntnis nehmen. FRITZ STROPAHL, Nordhorn

Schön dass Götz Aly wieder mal eine provokante Interpretation herausgibt. Seine Erklärungen der Zustimmung zum Nationalsozialismus lassen sich unterstützen durch die Arbeit unserer (kleinen) KZ-Gedenkstätte (www.kz- denk-neckarelz.de). Wir bieten auf die Frage, wie es relativ wenigen Aufsehern in den Arbeits-KZ des letzten Kriegsjahres gelungen ist, viele Häftlinge zur Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie zu veranlassen, die Überlegung an, dass die meisten „Funktionshäftlinge“ nicht nur ihr eigenes Überleben erreichen wollten, sondern sich durch „Vergünstigungen“ korrumpieren ließen. Solche Motive für ihr Mit-Tun dürften auch bei weiten Teilen der Bevölkerung vorhanden gewesen sein.

Allerdings knüpfen wir daran eine auf heute bezogene Frage an, die sich auch bei der Lektüre der Veröffentlichung von Aly Götz stellen sollte: Wie steht es mit unserer eigenen Korrumpierbarkeit? Über wie viel Gewalt, Unrecht und Ausbeutung sehen wir hinweg, weil wir von unseren Konsumgewohnheiten nicht lassen möchten? Wie hoch ist unsere Mitverantwortung an fatalen Entwicklungen von heute? GEORG FISCHER, Schefflenz

Es gab unterm NS so wenig sozial angenehme Dinge wie HJ, BDM, Reichsarbeitsdienst, später sterbende Soldaten (eigene!) und fliehende Armeen (eigene!) etc. pp. Das hat Hitler „seinen Deutschen“ durchaus angetan. Zunächst war der NS auch angenehm, je länger der Krieg dauerte, desto weniger – man muss das auch chronologisch anschauen. „Als die da brennend in die Wupper (die Alster, die Elbe …) gesprungen sind“, war das „natürlich furchtbar“. Ebenso „natürlich“ waren die sozial ausgerichteten Angebote des NS an die nicht vermögenden Schichten für diese angenehm und wurden zu einem Teil (aber eben nicht von allen, auch nicht von allen „Bedürftigen“) gern angenommen. Und das galt auch nicht für alle sozialen Angebote: Kindergeld war okay (und gerade von heute aus gesehen selbstverständlich korrekt), das „Mutterkreuz“ wurde dagegen meistens schon mit dem zugehörigen „schlechten Beigeschmack“ angenommen – „ein bisschen lächerlich war’s schon“. Man muss sich eben genau ansehen, worum es jeweils geht.

Konnten „Volksgemeinschaft“ und „Betriebsgemeinschaft“ (= das erste „Sozialbündnis“ à la Karl Schiller?) für die darin Integrierten noch angenehm sein, so war doch der Ausschluss der „Gemeinschaftsfremden“ immer sichtbar. So kann ein zu NS-Zeiten begeistertes Mädchen aus der KLV (Kinderlandverschickung) melden: „Da haben die ein ganzes Schloss für uns besetzt! Ja, für die Jugend haben die alles getan.“ Demgegenüber beschweren sich andere retrospektiv und schon zur NS-Zeit über KLV, BDM/HJ und RAD (Reichsarbeitsdienst): „Was die mit uns gemacht haben, geht auf keine Kuhhaut.“

Immerhin war es noch in einer Befragung der Alliierten nach 1945 möglich, den NS als „gute Idee“ zu bezeichnen, die „nur schlecht realisiert wurde“. Zentral ist: Der NS hat „den Sozialstaat“ nicht erfunden, er hat sich das zu seiner Zeit politisch Brauchbare zunutze gemacht. (Hartz IV ist demgegenüber ein Rückschritt ins viel frühere 19. Jahrhundert, die Wiederherstellung einer Kaste von ganz Armen.) All dies ist schon länger bekannt, spätestens als dann wirklich die Leute, die im NS als Gemeinschaftsfähige gelebt hatten, befragt wurden. Und das hat die „oral history“ schon seit Beginn der 1980er-Jahre getan und dabei so manchen „Enttypisierungsschock“ erlitten. (Siehe die drei Bände des Projekts „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet“ von Lutz Niethammer u. a.) Leider hat dies nie die höheren Weihen der Disziplin erhalten. NORI MÖDING, Berlin

Immerhin gibt Aly am Schluss zu, dass sich der so gemütliche NS-Wohlfahrtsstaat von vornherein auf Lug und Betrug gründete, weil Hitler weder seine Fernziele (wie die Ausrottung von Millionen von Juden und von viel mehr Slawen) noch seine Bereitschaft zur Vernichtung des deutschen Volkes selber offen legte. Diese auch gegen die Deutschen grausame Vabanque-Spielerei wird jetzt jedem Besucher von „Der Untergang“ deutlich. Man kann daher auch ganz andere Beziehungen als Aly herstellen: Der wahrscheinlich spätestens seit Stalingrad auch von Hitler verloren gegebene Krieg durfte nicht beendet werden, weil er zumindest den Völkermord vollenden wollte und natürlich selber so lange wie möglich überleben. Das bedeutete nichts anderes, als dass eben so lange Deutsche wie alle anderen millionenweise zu sterben hatten. Die schließlich acht Millionen deutschen Toten (von anderen Verlusten zu schweigen) nennt Aly souverän „auch Opfer“. Es ist die größte Zahl nach den Russen, was ihn leider wenig beeindruckt. GUIDO KOHLBECHER, Neustadt

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