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Archiv-Artikel

Der Fall Kevin in Bremen zeigt, wo der Staat gefordert ist Ein vernachlässigtes Problem

Die Taten von Eltern, die ihre Kinder grausam vernachlässigen, verhungern oder verdursten lassen, schockieren auf eine Art wie kaum ein anderes Verbrechen. Denn die Tötung des eigenen Kindes ist kein normales Delikt: Es unterminiert das Grundvertrauen, das wir in Menschen haben – nämlich dass sie nicht imstande wären, ihre eigenen Kinder zu quälen und töten: ganz gleich, was sie sonst an Verächtlichem zu tun imstande sind.

Deshalb ist die affektive Aufladung solcher Fälle so heftig. Fälle wie der des zweijährigen Kevin, der in Bremen tot im Kühlschrank seinem drogensüchtigen Vater aufgefunden wurde, werfen zwangsläufig die Frage auf: Was ist das für eine Gesellschaft, in der solche Untaten möglich sind? Oder, plakativ gesagt: Was sagt dies über uns aus?

Oft wird versucht, in solchen Fällen einen Schuldigen dingfest zu machen. Einen spektakulären Versuch unternahm 2005 der brandenburgische Innenminister Schönbohm, der die Taten eine Mutter, die neun ihrer Babys gleich nach deren Geburt getötet hatte, als Spätfolge der DDR-Kultur deutete. Oft werden aber auch Individualismus oder Werteverlust bemüht, um eine Erklärung für das Unfassbare zu finden. Oder wenigstens ein Wort dafür. Doch solche Erklärungen dienen allein der Selbstberuhigung – und verstellen den Blick. Deshalb ist es ein Fortschritt, wie derzeit über den Fall des zweijährigen Kevin debattiert wird. Es geht dabei um das Fehlverhalten der Behörden, die es duldeten, dass das Kind bei seinem drogensüchtigen Vater blieb – obwohl der im Verdacht stand, seine Frau getötet zu haben.

Dieser Fall ist eklatant, und die zuständige Bremer Senatorin ist zu Recht zurückgetreten. Wichtiger aber ist, dass dieser Fall den Blick darauf lenkt, dass viele Jugendämter überfordert sind und dass Jugendhilfe nach Kassenlage funktioniert. Familienministerin von der Leyen will nun immerhin ein paar Millionen bereitstellen, um katastrophale Fehler wie in Bremen möglichst auszuschließen.

Diese Konsequenz ist richtig. Sie ist konkret und meidet die Flucht ins Weltanschauliche, in abstrakte Wertedebatten. Nötig wäre aber noch mehr, nämlich Taten. In Skandinavien sind Gesundheitsuntersuchungen von Kindern Pflicht. In Deutschland nicht, obwohl damit Vernachlässigungen von Kindern früher erkannt würden.

Doch in Deutschland ist die Ideologie mächtig, dass sich der Staat in Familien nicht einzumischen hat. Hinzu kommt ein weit verbreitetes Misstrauen gegen den Staat. Das mag historisch verständlich sein. Doch leisten können wir uns beides nicht mehr. STEFAN REINECKE