Der Akt des Lesens : Morgen
Ich stehe auf – manchmal vor sieben, meist um halb neun. Ich wasch mich, geh raus, kaufe ein Croissant, während der Espresso sich auf dem Herd langsam macht. Die türkische Verkäuferin in der Bäckerei packt ein Croissant ein, als sie mich sieht. Sie freut sich, dass sie mich wiedererkennt und mir wie immer einpackt, bevor ich sie grüße. Ich finde das auch schön.
Die Bäckerei öffnet um fünf – wir sind im kreuzbergnahen Osten. Manchmal nehm ich auch noch eine Schrippe und die taz aus dem Briefkasten; manchmal liegt im Umsonst-Zeitungs-Papierkorb auch eine Berliner Zeitung, weil die Umsonst-Zeitung so ähnlich aussieht. Dann tunke ich das Croissant in den Milchkaffee und esse es auf. Nach dem Croissant bin ich berechtigt zu rauchen. Ich rauche zwei oder drei Zigaretten und lese dabei die taz von vorn bis hinten, also meist alles. Vor allem geht’s mir um den Akt des Lesens.
Im Radio läuft Radio Eins, Deutschlandfunk, BBC manchmal auch. Einmal hatte ich einen Jugendlichen-Sender an, die Sprecher waren aggressiv gut gelaunt und die Sendung hieß „Wissen, auf das geschissen ist“. Oder ähnlich. Ganz furchtbar. Im BBC läuft eine Reportage über Griechenland, den Generalstreik, die Unruhen. Man ist irgendwie viel mehr dabei als im Fernsehen.
Der Reporter steht auf dem Syntagma-Platz in Athen, man hört den Verkehr im Hintergrund. Kommunisten haben die Akropolis besetzt. Eine revolutionäre Situation sozusagen; wie hieß das noch mal in diesem Buch von Rolf Dieter Brinkmann; genau: „1971/Notizen – Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand“. Als ich mal auf diesem Platz war, waren mir nur die Drogensüchtigen aufgefallen. Dann setze ich mich an den Schreibtisch und schreibe an den Sachen weiter. Weil ich immer gleich sofort schreiben will, mach ich mir keinen Plan. Und deshalb wird das alles nichts. DETLEF KUHLBRODT