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Den Schatten in den Keller sperren?

■ betr.: „Strafunmündige machen Justiz ratlos“, taz vom 24./25.8. 96

Ohnmacht. Wer mit Jugendlichen zu tun hat, die keine Grenzen des Handelns erlebt haben und die in sich keine Vorstellung von Moral finden, kommt an die eigenen Grenzen – Ratlosigkeit und Verzweiflung ist eine Reaktion. Diese Momente kennen alle, die in der Jugendhilfe mit Jugendlichen zu tun haben, in deren Leben all die Brutalität und Grenzenlosigkeit der Erwachsenenwelt nicht mehr nur Videorealität, sondern Wirklichkeit wurden. Der Wunsch nach einem „sicheren Ort“, an dem man diese Jugendlichen „schützen“ kann und ihnen „helfen“, ist ein Ausdruck der Betroffenheit. Der Wunsch bleibt dann in der Kinderpsychiatrie Wiesengrund hängen – letzter Ausweg!? Die Forderung nach „geschlossener Unterbringung“ im Rahmen der Jugendhilfe für nur eine ganz „kleine, eingegrenzte Gruppe“ von Kindern und Jugendlichen findet Eingang in die Köpfe und die Diskussion. Andere greifen sie hier allzu gerne auf.

Die Absicht: „Jugendliche festhalten, daß sie zu sich kommen, man sie erreichen kann“. Wenn Jugendhilfe dies mit baulichen Mitteln macht, dann ist sie über eine entscheidende Weiche gegangen hin zur „Hilfe zur Verwahrung“! Bisher steht glücklicherweise das Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1990 dagegen.

Die Geister die man rief. 4 geschlossene Plätze oder 20 in Berlin? Oder ...? Beim diesjährigen Jugendhilfetag in Leipzig hielt ein aufgeschlossener Vormundschaftsrichter der Jugendhilfe vor: „Wenn Sie über den Kölner Domplatz gehen und diese obdachlosen Kinder sehen und dann solche Einrichtungen ablehnen, dann verweigern Sie diesen Kindern Hilfe!“ Schon haben wir den Bedarf von einigen hundert Plätzen in Berlin! Entweder mit den Kindern und Jugendlichen – oder über sie hinweg. Es gibt da keinen Mittelweg in der Jugendhilfe!

Mythos. Geschlossene Einrichtung – d. h. 30–40 Prozent der Untergebrachten sind auf der Flucht. Wie müßte diese vermeintliche Einrichtung der Jugendhilfe geschaffen sein, daß sie – wie im beschriebenen Fall des 13jährigen Bosniers – ein Kind mit 8monatiger Überlebenserfahrung in den Bürgerkriegsstraßen gegen seinen Willen festhalten kann?

Was tun? Was auch wichtig ist: Eine Perspektive. Die im Artikel beschriebenen Problemgruppen (Kinder aus Bürgerkriegsgebieten, Kinder von Eltern aus Bürgerkriegen) haben eines gemeinsam – keine Perspektive. Sie gehören Bevölkerungsgruppen an, denen politisch keine Perspektive (Integration) zugestanden wird. Diese Menschen werden hier nicht gewollt – was bleibt? Wegschließen?

Wichtig ist, daß die Spardiskussion und die interne Umgestaltung der Jugendbehörden nicht weiter alle Köpfe blockiert. Die Diskussion über geeignete Konzepte und Einrichtungen hat unser Verein schon vor einem Jahr eingefordert – also los! Aber: Nur die Jugendhilfe allein wird die Lösung nicht bringen. Roland Geiger, Geschäftsführung Aktion 70 e.V.

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