Das zeozwei Porträt: Danke, Marianne Fritzen

Marianne Fritzen ist tot. Wie keine andere personifiziert sie den Widerstand der Deutschen gegen die Atomkraft.

Marianne Fritzen, drei Monate vor ihrem Tod. Bild: Anja Weber

Marianne Fritzen ist tot. Die Atomprotest-Ikone des Wendlands starb im Alter von 91 Jahren in der Nacht zum Montag. Mit der Schriftstellerin Andrea Paluch hat sie vor wenigen Wochen für unser aktuelles Heft „30 Jahren Tschernobyl“ über ihr Leben gesprochen. Es ist ein beeindruckendes Leben. Deshalb haben wir Marianne Fritzen auf unser Cover genommen, nicht ahnend, dass dieses Leben mit dem Erscheinen unseres Heftes zu Ende sein würde. Das Motto unserer ganzen Ausgabe lautet „Danke“. Das gilt nun erst recht. Danke, Marianne Fritzen.

Mist. Jetzt hat mein Sohn ein dickes Knie, ich kann nicht, wie verabredet, ins Wendland fahren, um Marianne Fritzen zu besuchen. Die Frau, die den Widerstand der Deutschen gegen Atomkraft personifiziert wie keine andere. Wer wenn nicht sie, siebenfache Mutter, wird den Grund für meine Absage verstehen? Also kein „Die Wendlandsonne strahlte mir schon von der Haustür entgegen“, kein „Das kleine Häuschen am Waldrand war vollgestopft mit Büchern und chinesischen Figuren“ für diese Geschichte. Das langweilt eh die meisten.

Sie hat verstanden, nicht nur dagegen zu sein, sondern für ihr Anliegen auch Koalitionen zu bilden, weit über das engste Lager hinaus – Jürgen Trittin

 

Dafür eine lustig plaudernde Frau am anderen Ende des Telefons. Wenn man es genau nimmt, telefoniere ich nicht gern. An diesem Morgen läuft mein Festnetz-Akku leer und ich muss auf mein Handy umsteigen. Im Lüchower Ortsteil Kolborn wird derweil Frau Fritzens Frühstückskaffee kalt. Ihr Kommentar: „Zum Glück wird das Ei nicht kalt, wenn man keins gekocht hat.“ Super, mit dieser Einstellung kann ich etwas anfangen.

Es soll nun aber keiner denken, Fritzen sei eine harmlose Omi. Sie sei „stur wie ein Panzer“, sagt der grüne Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin, der sich mit ihr zu seiner Zeit als Umweltminister von Rot-Grün angelegt hat. Als er die Atommülltransporte in das Zwischenlager Gorleben wieder aufnimmt, tritt ihm Fritzen entgegen, Gründerin der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e. V. und des Kreisverbandes der Grünen.

„Ich habe sie immer als eine sehr energische, sehr nachdenkliche Verfechterin gesehen, die dabei immer sehr politisch gewesen ist“, sagt Trittin. „Sie hat verstanden, nicht nur dagegen zu sein, sondern für ihr Anliegen auch Koalitionen zu bilden, weit über das engste Lager hinaus.“ Damals wirft sie ihm ihr grünes Parteibuch vor die Füße.

Marianne Fritzen wird 1924 geboren und wächst im Elsass auf. Ihre Muttersprache ist Französisch, was man bis heute am Hauch eines Akzentes hört. Sie macht 1941 in Paris Abitur, darf aber wegen ihrer doppelten Staatsbürgerschaft nicht in Frankreich studieren. Nach Kriegsende zieht sie nach Berlin, heiratet, bekommt Kinder und lässt sich mit ihrer Familie 1957 in Lüchow nieder.

Zum 30. Jahrestag von Tschernobyl kommt die neue zeozwei mit 50 Köpfen des Atom-Protestes, der zum deutschen Atomausstieg geführt hat. Wir sagen: DANKE! Und fragen: War's das wirklich? Wie geht es jetzt weiter?

 

Mit Beiträgen von und über: Marianne Fritzen - Michael Schroeren - Harald Zindler - Doris Dörrie - Swetlana Alexijewitsch - Manfred Kriener - Gerd Rosenkranz - Erhard Eppler - Rainer Baake - Christoph Bautz - Wolfgang Ehmcke - Hans-Josef Fell - Wolfram König - Reiner Geulen - Monika Griefahn - Georg Janssen - Jo Leinen - Franziskus - Eva Quistorp - Michael Sailer - Jochen Stay - Ulrich Töpfer - Wolfgang Niedecken u.v.a.

1966 folgt Fritzen ihrem Mann in die Republik China (Taiwan). Er hat dort eine Gastprofessur für zwei Jahre erhalten. „Taiwan war die beste Zeit unseres Lebens.“ Darin war sich das Ehepaar immer einig. Die Ermöglichung eines zufriedenen Lebens auch für die Kinder in dieser Fremde ist ein großes Abenteuer, ihre Stelle als Dozentin für Französisch eine neue Herausforderung. Der Alltag ist so voll mit Organisieren und Sich-Zurechtfinden. Für ein Nachdenken darüber bleibt keine Zeit.

Fritzen ist ins Hier und Jetzt geschmissen, begleitet von einem Haufen neuer Eindrücke. Allein ihr Mann, „der große Denker“, fertigt regelmäßig Berichte über ihren Aufenthalt in Taipeh an. Ich kann mir gut vorstellen, wie der Auslandsaufenthalt bei den Fritzens die Wahrnehmung belebt, Flexibilität einfordert und Routinen aufbricht. Alles ist spannend. Die Zeit wird extrem intensiv erlebt.

Zurück in der Bauerngemeinde Lüchow wird sie wieder zur Lehrergattin. Sie holt ihre Mutter aus Paris zu sich und pflegt die demente Frau bis zu ihrem Tod 1976. Gleichzeitig engagiert sie sich im Bildungswerk der katholischen Kirchengemeinde und streitet vor allem dafür, dass interkonfessionelle Ehen wieder zugelassen werden. Schnell wird ihr Talent erkannt: Sie ist nicht auf den Mund gefallen und scheut sich nicht, Verantwortung zu übernehmen.

Prompt wird sie in Abwesenheit zur Vorsitzenden des Pfarrgemeinderats gewählt. Inhaltliche Veränderungen nicht inklusive. Das zeigt sich, als sie wegen des geplanten Atomkraftwerks bei Langendorf an der Elbe Vorträge im Bildungswerk zur Atomenergie halten lassen will. „Das haben aber meine Kollegen aus dem katholischen Pfarrgemeinderat abgelehnt, weil die alle aus der CDU kamen.“ Das ist der Moment, in dem sie die Kirchenarbeit zugunsten der Mitarbeit in der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg aufgibt.

„Eine Frau! Und dann noch so eine Kleine!“

Das Thema Atomkraft ist ihr zu wichtig, um es fallen zu lassen. „Und dann habe ich gesagt, Kirche ade. Mit mir so nicht. Und seither habe ich natürlich ein schlechtes Gewissen, dass ich zwar katholisch bin, aber nicht mehr in die Kirche gehe.“ Dass sie konfessionelle mit politischen Themen tauscht und in den Vorstand der Bürgerinitiative gewählt wird, provoziert männliche Empörung: „Was! Eine Frau! Und dann auch noch so eine kleine!“

Wir schreiben das Jahr 1974. Es beginnt das, wofür sie bekannt geworden ist: Sie organisiert den Widerstand gegen das zunächst geplante AKW, dann gegen das geplante Nukleare Entsorgungszentrum (NEZ). Eine kleine Frau mit weitem Horizont und unerschütterlichen Überzeugungen, an der sich so mancher die Zähne ausbeißen wird. Fritzen beschäftigt sich mit Fachgebieten, mit denen sie sonst nie in Berührung gekommen wäre.

Sie liest Bücher um Bücher und saugt alles auf, was zum Thema Atomkraft gehört. „Kannst du nicht wenigstens abends im Bett ein normales Buch lesen?“, stichelt ihr Mann regelmäßig. Sie erarbeitet sich mit profundem Wissen den Respekt ihrer Gegner. In den vierzig Jahren harter politischer Arbeit geht sie nie mit der dicken Keule los und wehrt sich vehement gegen Feindbilder.

Sie will ihre Positionen darlegen, gehört werden und die Meinungen der anderen verändern. Fritzen zieht es zwar vor, über ihre Jugend während des Krieges nicht zu sprechen und diese dunkle Zeit zu verdrängen. Ihre Direktive des gewaltlosen Widerstandes basiert allerdings auf eben jenen Erfahrungen. Das Gewaltverbot wird innerhalb der Bewegung heiß diskutiert, aber eingehalten.

Alle Schichten arbeiten zusammen, vereint im gleichen Anliegen.

In Anbetracht der Großdemonstrationen eigentlich ein Wunder. Eine gewisse Ahnungslosigkeit kann daran nichts ändern: Sie sieht junge Demonstranten im Wald mit halbleeren Flaschen, in denen Lappen stecken. „Haben die keine Korken?“, wundert sie sich und macht die Männer auf die Brandgefahr im Wald aufmerksam. Später erfährt sie, dass das waschechte Exemplare der sogenannten Mollies waren.

Auf die Frage nach den Erfolgen der Mühsal kommt schnell und routiniert die Antwort: zwei Mal Wiederaufarbeitung verhindert, keine Castortransporte mehr. Was aber noch unglaublicher ist, sagt Fritzen, ist die soziale Komponente, die Zusammengehörigkeit aller Menschen in der Gegend, die sich über die Arbeit am selben Problem entwickelt hat. Die Kirchen im Landkreis leben heute in schönster Ökumene, sagt sie. Alle Schichten arbeiten zusammen, vereint im gleichen Anliegen.

Der stärkste Beleg dafür: Der Rotary-Club unterstützt in diesem Jahr das Gorleben-Archiv mit einer Spende. Konservative unterstützen Linke – früher undenkbar. Grundsätzlich findet Fritzen es „eine viel zu trockene Angelegenheit, sich um diesen ganzen Widerstand zu kümmern“. Ihre Interessensgebiete sind vielfältig – Musik, Literatur, Fremdsprachen und Kunst. Die hätte sie gern intensiver mit ihrem Mann geteilt, dem Sinologen und Musikwissenschaftler.

„Ruft bitte zu Hause bei meinem Mann an und sagt ihm, ich lebe noch.“

Wenn Fritzen unterwegs ist, sitzt ihr Mann zu Hause und hat immer eine Funktion. Meistens macht er Telefondienst. Einmal wird sie bei einer Blockade festgenommen. Bei der Feststellung der Personalien in einer örtlichen Behörde wendet sie sich an Bekannte: „Ruft bitte zu Hause bei meinem Mann an und sagt ihm, ich lebe noch.“

Der Mann erträgt das aufwendige Engagement seiner Frau, teilt auch den Protest. Eines Abends aber kommt er aufgewühlt von einem „Philosophen-Zirkel“ aus Hannover zurück. Als er vorgestellt wurde, sagten sie zu ihm: „Was? Sind Sie der Mann von der berühmten Frau Fritzen?“ Der Schock ist ihm noch am nächsten Tag anzusehen. „Er, der große Maestro, wird anhand seiner Frau identifiziert!“ Joachim Fritzen stirbt 1996.

„Sind Sie der Mann von der berühmten Frau Fritzen?“

Die strukturschwache Gegend Lüchow-Dannenberg blüht mit zunehmendem Protest auch kulturell und wirtschaftlich auf. Der Vorstand der Bürgerinitiative will nicht zum kompletten Neinsager werden, sondern auch alternative Wege aufzeigen. Es werden regenerative Energien gefördert, die heute über hundert Prozent des Bedarfs im Wendland decken. Biobauern siedeln sich an, auch Künstler.

Es entsteht die „Kulturelle Landpartie“, heute ein bedeutendes Kulturfestival. Die Fremdenzimmer sind in dieser Zeit ausgebucht. Widerstand als Wirtschaftsfaktor. Der Anstoß für ein Engagement Fritzens kommt normalerweise von außen. Dann fängt sie entweder Feuer oder sie weiß: Das ist nichts für sie. Für die politische Arbeit brennt sie. 15 Jahre lang arbeitet sie für die Grünen in den regionalen Gremien. Im Stadtrat, im Samtgemeinderat, im Kreistag.

Sie übernimmt den Arbeitskreis „Kunst und Kultur“, weil es kein anderer machen will. Daraus entwickeln sich soziokulturelle Ausstellungen mit befreundeten Künstlern. Bis heute gibt es das Projekt „Utopien-Forschung.“ Im Jahr 2000 ist Schluss mit den Grünen. Wegen des rot-grünen Atomkonsenses tritt sie aus der Partei aus. Die Begründung: „Es gibt Grenzen, die das Gewissen setzt.“ Sie widerspricht der Behauptung, man könne nicht sofort aus der Atomenergie aussteigen und erteilt dem Verschieben von Restlaufzeiten auf andere Reaktoren eine Absage.

Aber das Schlimmste für sie ist, dass Umweltminister Trittin, von den Energieversorgungsunternehmen unter Druck gesetzt, als Erster sagt, der Salzstock in Gorleben sei als Endlager geeignet. Die Bürgerinitiative ist schockiert, der Protest spaltet sich von der Partei. Trittins Verhandlungserfolg, nach dem 80 Prozent der geplanten Castoren nicht nach Gorleben kommen, kann Fritzen erst Jahre später anerkennen.

Auch die Findungskommission für die Endlagerung, die die Grünen durchsetzen, hält sie zunächst für Augenwischerei. Den damit errungenen Zeitgewinn kann sie mittlerweile jedoch würdigen. Die Frage, wie mit dem atomaren Müll umzugehen sei, macht Fritzen ratlos. „Das ist nicht meine Aufgabe“, ist ihre erste Reaktion. Als Privatfrau würde sie zuerst einmal alle Atomkraftwerke abschalten und aufhören, neuen Müll zu produzieren. Und zwar sofort.

Alles Geld wird gespendet

In Anbetracht der Tatsache, dass das Müllproblem in keinem Land der Erde gelöst ist, würde sie die besten Köpfe aller Staaten für längere Zeit zusammenbringen und damit beauftragen, eine Lösung zu finden. „Als rationaler Mensch befürchte ich aber, dass es keine gute Lösung gibt.“ Vier Auszeichnungen hat sie in ihrem Leben bekommen, auch den mit 10.000 Euro dotierten Petra-Kelly-Preis.

„Ich habe nie etwas von dem Geld gesehen, sondern es gleich von Berlin aus gespendet. „Ein Teil geht an das Gorleben-Archiv. Dort werden alle Dokumente der Bewegung gesammelt. Ein großer Batzen davon sind Zeitungsartikel zum Thema, die Fritzen seit 1973 sammelt und die heute vierzig Aktenordner füllen. Aber auch die Beiträge anderer Sammler und Bücher werden hier archiviert. „Daran werde ich bis zu meinem Tod weiter arbeiten“, sagt sie.

Ein großes Vermächtnis, das Material für diverse Forschungsarbeiten bereithält. Das Archiv ist für wissenschaftliche Arbeiten ideal. Fritzens großer Wunsch: dass jemand in einer Doktorarbeit die soziale Entwicklung im Landkreis seit dem Widerstand erforscht. „Wie geht es Ihrem Sohn?“ ist die erste Frage bei unserem nächsten Gespräch. Marianne Fritzen wünscht ihm nicht zu viel Verdruss. Sie hatte im letzten Jahr auch eine Knieoperation.

ANDREA PALUCH ist Schriftstellerin, Musikerin und Lernberaterin, Spezialbereich Legasthenie. Sie lebt mit Mann und vier Söhnen in Flensburg. Zuletzt ist von ihr erschienen: Wundervolles Dorfleben (Boyens).

Das Porträt erscheint in der kommenden zeozwei. Gerne können Sie den Artikel auf unserer Facebook-Seite diskutieren.