Das Streiflicht:
Verschätzt in Zeit, Kraft und Raum
Peter Blechschmidt, Chef des Großen Generalstabs beim Vertrieb der Süddeutschen Zeitung, beugte sich verzweifelt über die Stabskarte, auf der mit schlanken Pfeilen die Hauptstoßrichtungen der Silvesteroffensive seines Blattes eingetragen waren. Wie konnte es angesichts der minutiösen Stabsplanung zu einem derartigen Fehlschlag kommen? Im Morgengrauen des 1. Januar 2000 hätte eine Flugzeugarmada ihre tödliche Fracht, 1,1 Millionen Exemplare einer SZ-Sonderausgabe von je 16 Seiten Umfang, insgesamt 150 Tonnen, ins Zielgebiet von Sylt bis Bayern verbringen sollen. Ein vernichtender Schlag an der Leserfront. Dass infolge Nebels die Flugzeuge in München-Erding stecken geblieben waren, hatte Blechschmidt nicht angefochten. Unbeirrt hielt er an seinem „Schlieffen-Plan des SZ-Vertriebs“ fest, von ihm so benannt nach der Idee des gleichnamigen Generals zur Ausmanövrierung der französischen Streitkräfte. Wie dieser Plan in den Schützengräben des 1. Weltkrieges zu Schanden wurde, so erging es dem Plan seines Nachfolgers in der Rhön und im Thüringer Wald.
Taktisch geschickt ließ Blechschmidt zunächst die Zeitungspapiere auf Kleinbusse verladen, die bis auf die Höhen des Thüringer Waldes zügig vorankamen, um dann aber bei Tautendorf von der tiefgestaffelten Abwehr der Nachfolgeblätter der SED-Bezirkszeitungen mit der Thüringischen Allgemeinen als Vorhut blockiert zu werden. 40 verkeilte Autos bildeten eine unüberwindliche Barriere. Das strategische Ausweichmanöver, das Blechschmidt mit einem Teil der Streitkräfte auf der A 9 versuchte, scheiterte kläglich auf der Höhe der Raststätte Rhön. Da beide Seiten der Autobahn von der großen Anti-SZ-Koalition (Fuldaer Bistumsblatt bis Hannoversche Allgemeine) besetzt worden waren, endete die Expedition im Kessel, in der Sporthalle von Bad Breitenau, wo die Begleitmanschaften, auf den durchgeweichten SZ-Paketen hockend, von Militärbischof Dyba seelsorgerisch betreut wurden.
Überflüssig zu berichten, welches Schicksal die taktisch wendigen, aber strategisch unerheblichen Kleinbusse an der befestigten Mainlinie (FAZ plus FR plus Freiwillige der Badischen Zeitung) erwartete. Zwar wusste Blechschmidt, ein subtiler Clausewitz-Kenner, dass im Moment der Schlacht alle Planungen Makulatur werden. Aber auch ihm blieb jetzt nur noch Guerillataktik, also Pkws. Was diese nach Berlin durchbrachten, wurde von rasch mobilisierten taz-Verkäufertrupps beschlagnahmt. Fazit des Blitzkriegs: Einnebelung der Leser. Am 3. 1. berichtete die SZ in ihren „Themen des Tages“: „In den voll besetzten Gaststätten von Kampen auf Sylt wurde die Sonderausgabe mit ebenso großem Hallo begrüßt wie beim Neujahrs-Skispringen in Garmisch-Partenkirchen. ... Und in der Hauptstadt, so berichten die Verteiler, wunderten sich die fixen Berliner, dass ausgerechnet eine Münchner Zeitung mit so frischer Ware auf dem Markt war.“
Hätte Blechschmidt doch das Urteil des Historikers Gerhard Ritter beherzigt. Der urteilt über den Plan des Generals Alfred von Schlieffen, ihm hätte eine grundsätzliche Fehleinschätzung von Zeit, Raum und Kräften zugrunde gelegen. Christian Semler
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