DVDESK : Nackt in der Wüste
„Teorema – Geometrie der Liebe“. Italien 1968. Regie: Pier Paolo Pasolini. Ab ca. 24 Euro im Handel
Familienleben ohne Farbe: der Vater, ein Fabrikbesitzer, die Mutter, der Sohn und die Tochter zu Tisch in der Villa. Sie sitzen da ziemlich allegorisch herum. Man hat zuvor die Tochter (Anne Wiazemsky, von Bresson und Godard her berühmt) nach der Schule gesehen, dazu spielte neutönerische Musik. Ein Springteufelpostbote bringt zu aufgeräumtem Klingelingsoundtrack ein Telegramm, die Hausangestellte präsentiert es, nun ist es aber still auf der Tonspur, dem pater familias auf dem Tablett. „Komme morgen“, steht da. Wer kommt, steht da nicht. Die allegorische Familie hat noch keine Ahnung: Es ist Advent, es hat ihr letztes Stündlein geschlagen.
Dass es um Kritik der Gesellschaft, des Kapitalismus, der Besitzverhältnisse und der zwischenmenschlichen Formen, die sie hervorbringen, geht – das macht Pier Paolo Pasolini im Prolog schon klar. In Fernsehinterviews wird das Geschehen deutlich im Jahr 1968 verortet, in dem sich die noch nicht so spätkapitalistisch patriarchalen Besitz- und Familienstrukturen in Frage gestellt sehen. Mit Reformismus freilich hat Pasolini gar nichts im Sinn. Der Heiland muss kommen, und er tut als sanftester und alles umarmender und mit allen zu vögeln bereitester Mensch das Seine zum Untergang von Fabrik- und Villenbesitzer, Prüderie, Klassenverhältnissen und Patriarchat.
Eine Party in Farbe. Junge Menschen sitzen herum. Aufs Unprätentiöseste tritt der Gast ein. Wer ist das, fragt eine junge Frau die Tochter auf Englisch. „A boy“. Der Boy sieht unverschämt gut, wenn nicht göttlich aus, nämlich wie Terence Stamp, der ihn spielt. Viel sagt er nicht, aber dem homosexuellen Begehren des Sohnes gibt er ebenso nach wie dem verdrängten Wunsch der Mutter nach Promiskuität. Der Hausangestellten rettet er das Leben und auch mit ihr schläft er. Der Vater liegt krank zu Bett, der Gast nimmt sich seiner an und heilt ihn, und man muss nicht lange rätseln, was dann am Ufer des Po passiert. Die Tochter hab ich vergessen, auch mit ihr hat er Sex. Die Musik zu alldem ist entweder von Morricone (zwischen schönem Misston und Jazz) oder von Mozart (Requiem), und Pasolini spart bei ihrem Einsatz vor allem im Mozart-Fall nicht an Pathos.
Der Gast ergreift also von der Familie Besitz, das aber in formvollendeter Passivität. Er sitzt auch im Garten und liest in den Werken Rimbauds. Während eines gemeinsamen Mahls mit der Familie kommt wieder ein Telegramm und der Gast erklärt, dass er am nächsten Tag abreist. Und da ist es um alle wirklich geschehen. Die Mutter (Silvana Mangano) greift sich wahllos italienische Jungmänner, während die Hausangestellte Brennnesselsud trinkt, Wunder wirkt und über einem Dach schwebt. Die Tochter verkrampft, rührt sich nicht mehr und kommt in die Anstalt. Der Sohn wird zum Künstler zwischen Francis Bacon und Jackson Pollock und redet entsprechend wirr.
Der Vater (Massimo Girotti) aber irrt durch die Wüste, und zwar ganz buchstäblich. Den Film über war zwischen die Szenen von Sex und Sitzen im Garten und Ausflug zum Po schon immer sehr stromboleske Wüstenlandschaft geschnitten. In der endet es nun. Der Vater, nackt, von der Fabrik, der Familie, von Gott verlassen. Keine Erlösung für ihn, keine Erlösung für die Bourgeoisie. Die Botschaft ist klar, und man kann ihr nun anhängen oder auch nicht. Was aber in jedem Fall großartig ist an „Teorema“, ist die Deadpan-Selbstverständlichkeit, mit der sich hier Zeichen und Wunder ereignen. Kühn ist das hingestellt, groß steht es da. EKKEHARD KNÖRER