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Archiv-Artikel

DVDESK In Würde stillgestellt

Pedro Costa: „Juventude em marcha“ („Colossal Youth“), Portugal 2006, 149 Min., 2 DVDs inkl. Bonusmaterial, The Masters of Cinema Series, zu beziehen zum Beispiel via play.com

In seinem Film „In Vandas Zimmer“ aus dem Jahr 2000 porträtierte der portugiesische Regisseur Pedro Costa das Armenviertel Fontainhas am Rande von Lissabon. Eine Gemeinschaft von Menschen, vor allem Immigranten von den Kapverden, die dort unter schwierigsten Bedingungen existierten, in dieser Gemeinschaft aber eine Würde bewahrten, die ihnen Costa nicht nahm. Ein Jahr lang war er unter den Menschen des Viertels, sprach mit ihnen, filmte sie im kleinen Team mit seiner Digitalkamera und gewann sie zu Freunden. Im Zentrum stand Vanda Duarte, eine drogenabhängige Frau, drei Stunden lang ist der Film und verlässt das Zimmer und Vanda Duarte selten.

Sechs Jahre später sehen wir Vanda wieder, aber sie lebt nicht mehr in Fontainhas. Das Viertel wird abgerissen, seine Bewohner werden umgesiedelt in Sozialwohnungsbauten. Ventura ist der Protagonist von „Juventude em marcha“, ein Mann von den Kapverden, der in den Sechzigern als Arbeiter das berühmte Museum Gulbenkian mit aufgebaut hat. Einmal sitzt er in der Stille des Gulbenkian-Gartens und erinnert sich an seine Arbeit vor Ort. Zuvor sah man ihn im Innern dieses Museums, sah einstellungfüllend Rubens’ „Flucht nach Ägypten“, sah eine prachtvolle Chaiselongue. Zwischen Fontainhas, den Sozialwohnungsbauten am Rande der Stadt, und dem Museum, das aus der Stiftung des Ölmilliardärs Calouste Gulbenkian finanziert wurde, liegen Welten.

Sollte man denken. Pedro Costa betont diese Differenz nicht. Zwischen der Höhenkamm-Kunst, auf die kurz der Blick fällt, und der einzigartigen filmischen Form, die Costa in „Juventude em marcha“ zur Vollendung führt, gibt es vielmehr Korrespondenzen. Jede einzelne Einstellung dieses Films ist als intimes Tableau komponiert. Die Kamera ist für Costa keine Sonde, sie begibt sich auf keine Suche, bewegt sich nicht. Sie erkundet nichts, sondern schafft zweidimensionale Skulpturen, in denen zum Beispiel die Figuren Karten spielen im digitalen Sfumato, aber doch in kunstvoll künstlich gesetztem Hellraum im Dunkel wie der Falschspieler Caravaggios. Dagegen steht das Gleißen der geweißten Wände der Sozialwohnungsbauten innen und außen, dagegen steht die Wand, die der Mann vom Amt abwischt, nachdem Ventura sich kurz mit der Hand daran abgestützt hat.

Pedro Costa glaubt nicht daran, dass sich die Welt von Fontainhas durchs bloße Draufhalten festhälten lässt. Das gilt auch für die Dialoge, die Ventura und Vanda und all die anderen sprechen. Alle spielen sich selbst und sagen eigene Texte auf. Wieder und wieder liest Ventura den Text eines uralten Liebesbriefs, den er einst schrieb, an Clotilde, die Frau, die ihn später verließ. Die Worte des Briefes behandeln Ventura und Costa als Lyrik. Sie kehren wieder, sie werden, wie die Figuren im Raum, so als Worte im Raum auch Skulptur.

Wer könnte sagen, ob Pedro Costa, der diese Menschen in seinen Film wie in Kunstwerke stellt, in ihrem Sinn handelt. Wie man das als politische Geste deuten kann, ist durchaus offen. Der Ventura des Films, die Vanda von Costa sind Menschen von äußerster Würde, aber stillgestellt, aus einem konkreten Sozialen in ein modernistisch Mythisches hinaufgestellt sind sie auch. Die aufwendige Edition des Films (englischer Titel ist „Colossal Youth“) bei Masters of Cinema geht unter anderem mit einem Text des Philosophen Jacques Rancière im Booklet und mit einer Doku zu Pedro Costa diesen Fragen nach. Man kann Costa skeptischer sehen als seine Verehrer. Dass dies ein Werk ist, um das, wer sich fürs Kino der Gegenwart interessiert, nicht herumkommt, steht außer Frage.

EKKEHARD KNÖRER