DVDESK : Die Kunst des Seitlich-dran-Vorbeigehens
Lee Chang-Dong, „Poetry“, (Südkorea 2010); die DVD ist bei play.com in Eng-land für 14 Euro zu beziehen
Von spielenden Kindern am Ufer schwenkt die Kamera auf einen Fluss. Nach einer Weile erkennt man: Darin treibt eine Leiche. Dann ein Schnitt, wir sehen Mija (Jeong-hie Yun), eine Frau Mitte sechzig, beim Arzt. Ein Arm schmerzt ihr, aber das ist nicht schlimm. Stutzig macht den Arzt viel eher, dass sie sich an manche ganz alltäglichen Wörter nicht mehr erinnert. Sie wird zur Untersuchung an eine andere Ärztin überwiesen. Vor dem Krankenhaus eine sich nicht sofort erschließende Szene: Eine Frau irrt verzweifelt herum, man begreift irgendwann: Sie ist die Mutter des Mädchens, das als Leiche im Fluss trieb.
Mija geht weiter, an der Bushaltestelle sieht sie ein Plakat für eine Volkshochschulklasse zum Thema „Poesie“. Ein wenig Geld verdient Mija, die immer etwas zu schick gekleidet, aber in Wahrheit sehr arm ist, als Pflegerin eines von einem Schlaganfall gelähmten Mannes, dessen Lebenskräfte beim Bad in der Wanne auch mal an der falschen Stelle erwachen. Und dann sehen wir Mija im Volkshochschulgebäude, sie will, obwohl die Frist abgelaufen ist, noch in die Poesie-Klasse. Man lässt sie, vorn steht ein Dichter mittleren Alters, der den poetischen Blick auf die Dinge anhand eines Apfels erklärt.
Das ist das Gepäck, das sich Lee Chang-Dong in seinem Film „Poetry“ auflädt. Das ist der Kreis, den er ausmisst: Eine Frau, die an Alzheimer erkrankt ist und tut, was sie tun muss. Ihr Enkel, der sich an der Vergewaltigung einer Klassenkameradin beteiligt hat, die dann in den Fluss sprang. Und die Väter der Söhne, die deren Verbrechen abgebrüht zu vertuschen, die Untat mit Geld zu begleichen versuchen. Ein verzweifelter alter Mann, der sich Viagra verabreichen lässt. Und die Poesie – Mija geht mit anderen Augen und mit Notizbuch zum Festhalten der Augenblicksepiphanien durch die Welt. Wollten sie sich nur einstellen, die Epiphanien.
Menschlich viel Fieses
Summa summarum jedoch ergibt das menschlich viel Fieses plus Lyrik und kann nach den Gesetzen der Filmdramaturgie fast nur in Erbaulichkeit enden. Das tut es jedoch nicht. Nicht mal in der Lyrik, obwohl die, wo sie auftritt, meistens nicht gut ist. Ob ein Polizist die Poesie ins Zotige zieht, ob der Lehrer doch eher ziemlichen Quatsch lehrt und von einem etwas nerdigen echten Dichter später deshalb verlacht wird, ob eine Frau mittleren Alters genau die Schulmädchengedichte vorträgt, die man befürchtet: Lee nimmt die Menschen, wie sie sind. Er macht sich kein bisschen lustig, er beschönigt auch nichts. Es sieht hin und verschließt nicht die Augen und unterspielt alles Pathos und ist verständnisvoll und ist grausam und kann all dies sein, weil er die Kunst des (mit Max Goldt gesprochen) Seitlich-dran-Vorbeigehens sicher beherrscht.
Nichts wird hier unterstrichen, das Zarte wird mit dem Harten tariert. In der Poesie-Klasse erzählen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ihrem Leben. Ein Mann kann sich kaum an schöne Momente erinnern. Nur das eine Mal, als er aus seinem Kellerloch in eine größere Wohnung weiter oben umzog vor ein paar Jahren und sich dort auf den Boden legte mit ausgebreiteten Armen und Beinen, davon erzählt er. Auf Kleinigkeiten wie diese lenkt Lee, der den Film durch unbetonte Motivwiederholungen strukturiert, unseren Blick und lenkt ihn fast nicht. Er nimmt dem Schweren das Gewicht, aber das Schwere wird nicht leichter dadurch. Eine paradoxe Kunst dieser Art ist, wo sie gelingt, auch die Lyrik. Trost im engeren Sinn gibt es keinen. Ein letztes Mal Federball, einfach weitergespielt. Es bellt der Hund an der Kette. Mitten im Gedicht die andere Stimme. Ein Schwenk der Kamera von der Brücke auf Wasser, das fließt.
EKKEHARD KNÖRER