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DOKUMENTATION„Wir sollten bereit sein, einander Fehler und Schuld zu vergeben“

■ Bundesinnenminister Schäuble appellierte in seiner Eröffnungsrede an die Schriftsteller, sich vor der vorschnellen Verurteilung „belasteter“ Kollegen aus der ehemaligen DDR zu hüten

(...) Was viele Menschen in der früheren DDR unter beschwerlichen Umständen in ihrem persönlichen Umfeld geleistet haben, verlangt von uns Anerkennung und Respekt. Wir müssen Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Menschen in den neuen Ländern nehmen. Wir treffen auf das Selbstbewußtsein von Menschen, die eine Diktatur überlebt haben und die sich heute weigern, ihre Erfahrungen und ihre Vergangenheit einfach abzuschreiben.

Natürlich haben wir uns auseinandergelebt, wer wollte das leugnen? (...) Ich will den etwas bemühten Streit, ob es in unserem geteilten Land zwei deutsche Kulturen, gar zwei deutsche Sprachen gegeben habe, hier nicht vertiefen. Das Projekt einer „sozialistischen deutschen Nationalliteratur“, wie sich das die SED nach dem Mauerbau 1961 gewünscht hatte, ist jedenfalls im Ansatz gescheitert. Dennoch finden sich gerade in der Literatur der früheren DDR Sichtweisen, Erfahrungen und Erkenntnisse verarbeitet, die etwas ganz Eigenes, Bewahrenswertes darstellen. (...)

Es wird im übrigen schwerfallen, bei den Darstellungen, die die Betroffenen von ihrer Beziehung zum SED- Staat heute geben, immer sauber zwischen Wahrheit und Unwahrheit unterscheiden zu wollen. Ich will hier die Anpasser und Mitläufer, die Denunzianten und Handlanger des Systems nicht freisprechen: Aber ist es wirklich so schlimm, wenn heute viele ihre Vergangenheit anders darzustellen versuchen, zum Teil auch selbst anders sehen, als dies immer den Tatsachen entspricht? Die Gewohnheit, die eigene Biographie aus der Retrospektive da und dort etwas zu schönen, ist uns schließlich allen vertraut. Wir solltem jedem die Chance geben, dazuzulernen. Wir sollten bereit sein, einander Fehler und Schuld zu vergeben. Und zum Vergeben gehört vielleicht auch der Verzicht auf ein Übermaß an rechthaberischer Erinnerung.

Uns hier im Westen steht es nicht an, vom hohen Roß der intellektuellen Moral herab richten zu wollen. Wir, die wir auf der Sonnenseite der jüngeren deutschen Geschichte gelandet sind, sollten nicht den Stab brechen wollen über die, die das schlechtere Los gezogen haben. Für manches belehrende Wort, das hier im Westen gefallen ist, habe ich wenig Verständnis. Manches vorschnelle Urteil ist ganz und gar fehl am Platze. Ich kann zum Beispiel gut verstehen, daß sich die Literaten aus der ehemaligen DDR heute nicht im Westen als bloße Staatsdichter abkanzeln lassen möchten.

Es ist zuallererst Sache der Schriftsteller und Intellektuellen aus der ehemaligen DDR, sich mit dem Vergangenen, mit Schuld und Verstrickungen auseinanderzusetzen. Der Satz: „Wer hier nicht gelebt hat, kann das alles schlecht beurteilen“, darf dabei sicher nicht zur Ausrede werden. Wir im Westen sind aber gut beraten, uns diesem Problemkomplex nur behutsam, mit viel Einfühlungsvermögen zu nähern. (...)

„Der Gedanke ist bedrückend, uns könnten weitere vierzig Jahre ,Bewältigung‘ ins Haus stehen“

Da auch wir im Westen insofern nicht immer den eigenen Ansprüchen gerecht geworden sind, habe ich mich dafür ausgesprochen, nicht die Vergangenheit von vierzig Jahren DDR in allen Einzelheiten aufarbeiten zu wollen, sondern sich auf die schweren Fälle von wirklicher Schuld zu konzentrieren und im übrigen eher großzügig als selbstgerecht zu sein. Wir tragen im fünften Jahrzehnt nach dem totalen Zusammenbruch des Regimes noch immer an zwölf Jahren Hitler-Deutschland, und wir werden solange an dieser Vergangenheit tragen, solange überhaupt noch Menschen aus dieser Zeit leben. Für mich ist der Gedanke mehr als bedrückend, daß uns nach über vierzig Jahren mehr oder weniger erfolgreicher „Bewältigung“ der NS-Vergangenheit jetzt weitere vierzig Jahre „Bewältigung“ des totalitären Sozialismus in der DDR ins Haus stehen könnten — und den Menschen im Osten sogar beides. Die Demokratie lebt vom Austausch der Gedanken und Meinungen. Die Möglichkeiten der Politik, gar des Staates, in geistig-moralischen Fragen Einfluß auszuüben, sind begrenzt. Politik und Staat werden der Literatur in den angesprochenen Fragen bereitwillig den Vortritt einräumen, zumal, wenn es um Angelegenheiten ihrer eigenen Zunft geht. Ich verstehe Ihre Einladung gleichwohl als Signal für Ihre Bereitschaft, mit der Bundesregierung, mit dem Staat und den Parteien in einen konstruktiven Dialog über die uns gemeinsam bewegenden Fragen einzutreten.

Wir dürfen uns durch die Fehler der Vergangenheit den Blick für die Probleme der Gegenwart und für die Herausforderungen der Zukunft nicht versperren lassen. Für uns kommt es heute darauf an, Zeichen zu setzen, Zeichen der Hoffnung, Zeichen der Ermutigung.

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