DIETER BAUMANN über LAUFEN : „Marathon? Überlegungen eingestellt“
Ich übernahm eine Gruppe von Laufeinsteigern. Alle ehrgeizig und hoch motiviert. Doch dann erhöhte ich das Pensum
Im Sommer übernahm ich eine Gruppe von Laufeinsteigern. Alles Neulinge, und genau deshalb hoch motiviert. Das ist eine gute Voraussetzung für die Vorbereitung auf ein Laufabenteuer von 7 Kilometer Länge. Nach sechs Wochen – so lautete der innige Wunsch aller – wollten sie diese Strecke ohne Probleme schaffen.
Sie schafften es dann auch. Aber kaum hatten sie die Ziellinie überquert, fragten sie Sinn suchend nach einer neuen Herausforderung. Ich bekam eine Nachricht: „Alle sind stolz wie Bolle. Die Gruppe läuft weiter. Die Ersten haben sich bereits für den Nikolauslauf angemeldet und sind schon ganz heiß auf den neuen Trainingsplan.“
Waren sie im Endorphinrausch?
Der Nikolauslauf ist am 7. Dezember in Tübingen (10 Uhr) und nicht irgendein kleines Läufchen, sondern ein Halbmarathon – eine wunderschöne Strecke, aber mit einem enormen Berg. Nachdem die jungen Wilden von Stuttgart dieses ehrgeizige Ziel anvisierten, war ich überzeugt: Aus denen wird was.
Nun gut, die Laktatwerte waren nicht die besten. Die Beurteilung des Sportmediziners fiel wenig euphorisch aus. Zum größten Talent der Truppe meinte er immerhin noch: „Aus Ihnen könnte man noch am ehesten einen Sportler machen.“ Aber nicht alle hatten diese wahnsinnige Perspektive. Einer tendierte sogar extem in die andere Richtung („Sie haben echt eine miese Ausdauer“). Dennoch glaubte ich immer an die Mädels und Jungs.
Die Beziehung zu meinen Schützlingen wuchs von Woche zu Woche. Man gab mir Kosenamen wie „Drill-Dieter“ oder „Schleifer“. Alles nur, weil ich mir erlaubt hatte, das Training sukzessive zu erhöhen. Beispielsweise von 10 x 1 Minute laufen mit einer Minute Gehpause, auf 5 x 1 und 5 x 2 Minuten im Wechsel laufen mit einer Minute Gehpause. Zugegeben, ein echter Härtetest. Er zeitigte sogleich Wirkung.
Nach der ersten Einheit schrieb einer ins Tagebuch: „Erster Tag: Das Ganze besser überlebt als gedacht und darüber sinniert, ob nicht auch ein Marathon in Betracht kommt. Zweiter Tag: Überlegungen hinsichtlich des Marathons eingestellt.“
Auch wenn mal im Urlaub „überhaupt keine Lust“ da war – meine Autorität reichte bis ins schottische Hochmoor. Trainingsplan bleibt Trainingsplan. Dankbar erhielt ich eine Urlaubskarte: „Ich fühle mich so befreit, dass ich die ersten zwanzig Minuten locker dahintrabe, die Aussicht genieße und gar nicht ans Motzen denke.“
Na bitte, geht doch.
Mit jedem Lauf spürten meine Schützlinge, wie es aufwärts ging, wie ihr Selbstvertrauen wuchs. Die psychischen Veränderungen – ich sage nur: Ausgleich zum stressigen Berufsalltag und Aggressionsabbau – waren unübersehbar. „Neulich hat mich ein Mensch mit den Ausmaßen eines Elefanten überholt“, schrieb mir in großer Dankbarkeit ein Schützling. „Er ging, ich spurtete. Ich konnte den Windschatten nur zehn Sekunden halten, dann war der Dicke weg. Laufen ist geil. Habe ich mir gesagt. Laufen lassen noch viel geiler. Ganz ohne Aggression. Fast jedenfalls.“
Das Laufen wurde ihnen geradezu zum Lebensmittelpunkt. Auf einer der vielen anschließenden Vortragsreisen beschreibt ein Mitglied der Gruppe die Erfahrungen: „Laufen macht plötzlich richtig Spaß. Ohne Einschränkung. Ich könnte inzwischen täglich joggen gehen, aber ich halte mich zwanghaft zurück. … Ich trage meine Joggingschuhe manchmal schon heimlich daheim aus Vorfreude auf das nächste Training. …“ Kann man Laufen noch besser beschreiben?
Jetzt also steht der Nikolauslauf an. Noch eine Woche. Und die Vorbereitung? Ich weiß es nicht. Meine letzten Telefonate ergaben Folgendes: Die einen fürchten bei der kalten Witterung Lungenentzündungen. Andere müssen abendliche Kneipenbesuche mit zu viel Nikotingenuss überstehen. Bei diesem nebligen Novembergrau könnte sich zudem Migräne einstellen. Fast 1.500 Läuferinnen und Läufer starten beim Nikolauslauf. Und meine Gruppe aus Stuttgart? Hallo! Ihr jungen Wilden! Ich warte in Tübingen am Start auf euch.
Fragen zu Laufen? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Mausshardt über KLATSCH