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Archiv-Artikel

DIETER BAUMANN über LAUFEN Die Kunst, sich in den Arsch zu treten

Richtige Motivation ist die halbe Miete, im Sport wie in den Künsten – aber gilt das auch für die Politik?

Es wurde ganz still im Raum, die Zuschauer blickten nach vorne. Die Klavierlehrerin meines Sohnes hatte ihn zum Vorspielen aufgerufen, langsam ging er, mit seinem Notenbuch unter dem Arm, nach vorne und setzte sich ohne große Hast auf den Hocker. Der große Flügel wirkt riesig im Gegensatz zu ihm. Dann begann er zu spielen. Bis zu seinem Auftritt hatte er fünf Unterrichtstunden hinter sich gebracht und spielte nun die Nr. 10 aus Emonts’ Klavierschule. Fehlerfrei, zum ersten Mal. „Warst du denn nicht nervös, als du da vorne gesessen bist?“, fragte ich ihn, als wir auf dem Nachhauseweg waren. „Unheimlich sogar“, antwortete er und fügte noch erklärend hinzu: „Aber weißt du, kurz bevor ich loslegte, sagte ich zu mir: Robert, jetzt streng dich an!“ Er machte eine kleine Pause und meinte dann triumphierend: „Und es hat geklappt.“

Kein Motivationscoach dieser Welt könnte die psychologische Vorbereitung bei der Situation vor dem Start auf eine bessere Formel bringen: „Jetzt streng dich an!“ Nicht gestern und auch nicht morgen. Jetzt, heute, hier und unmittelbar.

Etwas wehmütig trottete ich neben ihm her, denn besser und einfacher könnte auch ich den Reiz eines Laufwettkampfs nicht beschreiben. Dieser einfache Satz machte mir mit einem Male klar, was mir bei meinem Fitnesslauftraining doch immer wieder fehlt. Es ist dieses „Jetzt streng dich an!“. Mit dieser Botschaft lebte ich immerhin 20 Jahre, vor jedem Start. Und jedes Mal schien es mir, als würde sich meine eigene innere Spannung mit den Erwartungen des Publikums verbinden – zu einem Gemisch, das jeden Augenblick explodieren könnte. Es war kaum auszuhalten. Und in solchen Augenblicken sprach ich dann so seltsam einfache Sätze wie etwa „Jetzt geht es los“ oder „Locker bleiben“. Ich trieb mich an mit dem trivial einfach klingenden Satz: „Laufen. Volle Kiste laufen.“ Aber der Sinn für Realität ging dabei nicht verloren: „Es wird wehtun, sehr wehtun“, sagte ich zu mir selbst, um es sogleich an meine Mitkonkurrenten weiterzureichen: „Aber allen anderen im Rennen auch.“

Auf den philosophischen Gehalt dieser Botschaften kam es dabei weniger an, wobei die Aufforderung „Jetzt streng dich an!“ einige Fragen offen lässt. Unzweifelhaft hat mein Sohn häufig am Klavier geübt, die Tätigkeit ist dieselbe, allerdings lässt das Wort „jetzt“ durchaus den Schluss zu, dass er sich „vorher“, also zu Hause beim Üben am Klavier, weniger anstrengt hat als „jetzt“ beim Vorspielen.

Beim Laufen ist das genauso. Stellen Sie sich einmal vor, ich würde vor jedem Dauerlauf ganz aufgeregt zu mir sagen: „Jetzt streng dich an!“ Das wäre doch etwas lächerlich. Bei einem Wettkampf ist das anders. Dafür beneidete ich den kleinen Kerl neben mir um die vielen Wettkämpfe, die vielen Startlinien, an die er noch gehen wird. Viele Chancen sind es, große Herausforderungen können es sein.

Auch Angela Merkel steht im Moment vor einer Startlinie, könnte man meinen. Und wir alle wünschen uns, dass auch sie ganz leise vor sich hinmurmelt: „Angie, jetzt streng dich an!“

Allerdings gibt es einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen Sport und Kunst. Wenn ich fehlerfrei Klavier spielen will, sollte ich mich darauf nicht durch wochenlange Geigenstunden vorbereiten. Genauso wenig kann ich mich nicht in einem Kraftstudio mit reinem Hanteltraining auf einem Marathon vorbereiten. In der Kunst wie im Sport muss man sich treu bleiben, um erfolgreich zu sein. Frau Merkel hat fleißig geübt in den vergangen Monaten. Allerdings hatte die übende Tätigkeit (also das, was sie vor der Wahl gesagt und versprochen hat) wenig zu tun mit dem, was wir beim jetzigen Vorspielen hören. Anders gesagt: Das, was in der Politik noch gestern eingeübt wurde, ist nicht dasselbe wie das, was heute auf den Tisch kommt. Weil es in der Politik, anders als in der Kunst oder beim Sport, auf Kompromisse ankommt.

„Angie, jetzt streng dich an!“? Sie kann es nur als Aufforderung verstehen, Meinungen von gestern über Bord zu werfen, wenn eine veränderte Situation es erfordert.

Fragen zur Motivation? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt über KLATSCH