DIETER BAUMANN über LAUFEN : Als Gastläufer bei Knastläufern
Willst du nicht mal mit meinen Jungs trainieren?, fragte mich der JVA-Mitarbeiter. Warum eigentlich nicht?!
„Früher“, sagte mir ein älterer Herr im verschwitzten T-Shirt, „haben wir mit den Strafgefangenen sogar an richtigen Volksläufen teilgenommen. Heute ist das undenkbar, was zählt, ist Sicherheit. Jetzt müssen wir mit denen sogar drinnen laufen.“ Mit „drinnen“ meinte der Gastläufer den Innenhof des Gefängnisses. Mit einem Lauftraining im Frühjahr hat es begonnen, und nun, nach einem halben Jahr, liefen die Jungs der JVA Gießen einen Staffelmarathon.
Vier Mann standen in einem Team, die Runde im Gefängnishof misst 100 Meter, für einen Marathon macht das 424 Runden. Jeder musste 106 Runden laufen. Die Idee wurde von JVA-Mitarbeiter Artur Schmidt geboren. Früher war er selbst Läufer, heute moderiert er in seiner Freizeit zahlreiche Laufveranstaltungen. „Willst du nicht mal mit meinen Jungs laufen?“, fragte er mich vor gut einem Jahr. Warum eigentlich nicht?!
So entwickelte sich aus dem anfänglichen Fitnesstraining der Plan für einen Staffelmarathon im Knast (an dieser Stelle ein Dank an den hessischen Justizminister Jürgen Banzer für seine Unterstützung). Ein Wettkampf sollte es sein, denn die Jungs wollten sich messen, gegen die Uhr und gegen andere. Artur Schmidt lud Gastläufer ein, die weitere Staffeln bildeten.
Dies war zur Unterstützung der Gefangenen auch notwendig, denn bei 106 Runden entlang einer Backsteinmauer tut Abwechslung not. Der Tagesablauf in der JVA wurde durch die Anwesenheit einiger Journalisten noch zusätzlich durcheinandergewirbelt. Denn ein solches Ereignis ist nicht der Alltag. Alltag für einen Gefangenen bedeutet 23 Stunden in der Zelle und 1 Stunde Freigang im Hof. Es sei denn, man hat Glück und kann in der JVA arbeiten. Doch Arbeit ist rar. Für viele bedeutet die Zeit im Knast auch eine Lebenslüge, denn viele Gefangene und ihre Angehörige wollen nicht, dass andere erfahren, wo man steckt. Die Scham ist zu groß und damit auch der psychische Druck. So fühlt man sich vergessen.
Wie lange eine Haftstrafe ihren pädagogischen Sinn erfüllt und wie sie ausgestaltet werden sollte, ist schwierig zu beurteilen. Es wird immer Kompromisse zwischen Sicherheit und Möglichkeiten dieser Gestaltung innerhalb einer JVA geben – auch in dieser Frage bin ich Laie und hoffe, dass die Fachleute alle Aspekte im Blick haben. Mein Metier ist das Laufen, die Bewegung.
Trotz der Mauern ist der Geist dabei befreit von Zwängen, vom strikten Tagesablauf, von der Tristesse des Zellenlebens. Ein Stunde laufen bedeutet, seinen Körper zu spüren, sich mit sich selbst auseinandersetzten zu müssen. Braucht man als Mensch am Abend nicht das Gefühl, etwas geleistet zu haben? Jemand denkt an mich, kümmert sich? Dieses Gefühl – „Jawohl, ich lebe noch, und andere nehmen daran teil, an diesem Leben. Selbst dann, wenn ich Fehler gemacht habe und im Knast bin“ – könnte Laufen geben.
Es muss nicht immer von so vielen Journalisten begleitet werden, doch in der Einmaligkeit sollte dies zu akzeptieren sein. Zu akzeptieren deshalb, weil auch der Sport seinen pädagogischen Sinn enthält. An einer Sache dranbleiben, sich vorbereiten, mit einem ganz bestimmten Ziel. Sich an Regeln halten, sich nicht selbst etwas vormachen, sich nicht selbst betrügen wollen – oder andere. Genau diesen Prozess durchlebten die Laufanfänger der Gießener JVA in einem halben Jahr.
Sie vollendeten den Staffelmarathon in respektablen Zeiten: Eine Staffel lief 4:00 Stunde, eine 4:08 und eine 4:16 Stunden. Unweit von Gießen fand am gleichen Wochenende der Frankfurt-Marathon statt. Auch dort gab es einen Staffelmarathon, und mit dabei waren Gefangene im offenen Vollzug. Sie hatten das Laufen im Knast gelernt und in der Teilfreiheit weiterbetrieben. Freiwillig. Als vierter Mann war ich in dieser Staffel beim Frankfurt-Staffelmarathon mit dabei. Sieben, elf, dreizehn und nochmal elf Kilometer sind die Abschnitte, die es zu laufen galt. Wir brauchten 3:00:44 Stunden. „Im nächsten Jahr laufen wir wieder“, sagte einer lachend im Ziel, „aber nicht als JVA Gießen und 44 Sekunden schneller.“
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