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Archiv-Artikel

DIETER BAUMANN über LAUFEN All die stillgelegten Kinder

Solange die Motorik grob unterschätzt wird, hilft auch keine „Turboschule“ mehr

In einem Vorort von Tübingen gibt es einen wunderschönen Spielplatz. Ein Klettergarten als wahres Kinderparadies. Er fordert und fördert Kreativität, Geschicklichkeit, gepaart mit Abwechslung bietet er die notwendigen Herausforderungen für Kinder. Was will man mehr, sollte man denken. Aber in einer Gesellschaft, in der verschiedene Lebensentwürfe parallel verlaufen, sind solche Entwicklungen ein Problem. Wer will schon so viele, auf einem Haufen spielende und dabei in der Regel auch tobende, ja schreiende Kinder gar, vor seiner Haustür?

Nach langem Gezerre und Händel gab es eine Nutzungsordnung für diesen Spielplatz. Nur noch zu festgeschriebenen Zeiten darf jetzt gespielt werden. Damit wurde der Spontaneität des Spieltriebs Einhalt geboten, und auch als Treffpunkt rund um die Uhr ist der Spielplatz damit erledigt. Wo ist das Problem? Doch in ein Bundesland, das eine besonders familienfreundliche Politik betreiben will, passt nicht unbedingt ein Spielplatz, den man nicht rund um die Uhr benutzen kann – schwächt doch gerade der Mangel an Spielplätzen eine zweite Forderung dieser familienfreundlichen und kinderfreundlichen Politik enorm: Kinder brauchen Bewegung.

Diese Erkenntnis ist nicht neu und hat nicht nur unter gesundheitlichen Aspekten seine Berechtigung. Auch in den sich immer wieder wiederholenden Diskussionen im Anschluss an Vorfälle mit und durch gewaltbereite Jugendliche wird eines deutlich: Kinder und Jugendliche brauchen Plätze – Spielplätze! –, um ihre Freiräume zu erarbeiten, ihre Emotionen ausleben und ihre Aggressionen im Spiel abbauen zu können. Ganz offensichtlich gibt es diese Freiräume nicht mehr in dem Maße, wie sie die jetzige Erwachsenengeneration noch aus ihrer Kindheit in Erinnerung hat.

Ein öffentlicher Brief von Kindern an das Münchener Rathaus zeigt die Auswüchse mit dem Umgang von Kindern in deutschen Hinterhöfen. Sie dürfen nicht schreien, nicht toben und nicht mit dem Ball spielen, heißt es da. Heute bedarf es sogar kommunaler Stellen, um für die Rechte der Kinder einzutreten. Den gesellschaftlichen Konsens, vielfältige Spielplätze zu bieten, scheint es nicht mehr zu geben.

Als Erfolgsmeldung wird gewertet, wenn die Kinder nun vor ihrer eigenen Haustür spielen dürfen. Wo sind wir hingekommen? Der Umkehrschluss kann gezogen werden, dass dort, wo keine selbstbewussten Kinder Briefe schreiben, auch keine Erfolge zu verzeichnen sind. Dort nämlich werden die Kinder verjagt. Deshalb, sollte man meinen, bekommt ein Spielplatz ohne Reglementierung der Spielzeiten ein ganz anderes Gewicht. In der Zukunft mit ihren vielen organisierten Ganztagsschulen wird die Beantwortung der Frage nach Spielplätzen und -zeiten noch dringlicher. So wird der organisierte Vereinssport beispielsweise die Rolle des Spiel- und Tob-Ersatzes annehmen müssen, will er seinen gesellschaftlichen Pflichten nachkommen.

Doch auch in dieser Frage regt sich Widerstand. Pädagogen spielen einzelne Fachbereiche gegeneinander aus. Die Spezialisierung unserer Kinder nämlich beginnt mit Fremdsprachen und physikalischen Frühversuchen schon in der Grundschule. Eine Rolle vorwärts oder das Balancieren über einen Baumstamm spielt nur noch eine untergeordnete Rolle.

Dass eine körperliche Grundausbildung sehr viel mehr mit einer guten Rechenleistung zu tun hat, wird dabei meist völlig negiert. Es wird lieber auf das Experiment „Turboschule“ gesetzt als auf eine natürliche, bewegungsorientierte Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Später dann, so ab 40, beginnen die stillgelegten Kinder von heute, sich dem Sport zu nähern. Sie entdecken den wohltuenden, stressabbauenden Nebeneffekt eines Dauerlaufes, wenn sie dann, in 30 Jahren, überhaupt noch laufen können. Um kinderfreundliche Politik tatsächlich umzusetzen, müsste man die Frage beantworten: Wo können Kinder und Jugendliche ihre Welt erleben und gestalten? Wo bleibt ihr Ausgleich, das Gefühl für Körperlichkeit, der Spaß und das Spiel des Lebens?

Spielen Sie draußen? kolumne@taz.de Morgen: Josef Winkler in der ZEITSCHLEIFE