DIE WIRKLICHKEIT IM FERNSEHEN : Mitesser und Tannennadeln
ANDREAS RÜTTENAUER
Er hat Zweikanalton. Das war mir schon wichtig. Ich war der Erste, der das gefragt hat. Einen Fernseher, der Zweikanalton nicht empfangen kann, kann ich nicht kaufen, habe ich zu dem Mann gesagt, der mich beraten hat. Wegen Arte und so. Damit man auch mal auf den französischen Ton schalten kann und wegen der Filme, die man im Original sehen will, weil sie da ja viel besser sind. Aha, sagte mein Berater und hat mich angeschaut, als würde er mir ansehen, dass das nicht stimmt. Da kauft einer einen Tag bevor die Olympischen Spiele beginnen, einen neuen Fernseher und erzählt was von Arte. Kunden gibt’s, mag sich der Mann gedacht haben. Verarschen kann ich mich selber, hat sich der Mann ganz sicher gedacht. Das habe ich seiner linken Augenbraue angesehen, die sich auf eine ganz bestimmte Weise gehoben hat, als ich den Sender Arte erwähnt habe. Der Berater musste jedenfalls ins Lager gehen und nachsehen, ob das Gerät, das ich mir ausgesucht habe, Zweikanalton kann. Wie gesagt, es kann.
Genau zum richtigen Zeitpunkt habe ich mir den neuen, leichten, flachen Fernseher gekauft. Gestern haben ARD und ZDF mit der HDTV-Regelausstrahlung ihrer Programme begonnen. Ich kann von der ersten Minute an dabei sein, wenn das eintritt, was die Sender versprechen. Es wird eine Bildqualität geboten, die dem Live-Erlebnis vor Ort nahekommt, sagen die immer. Der Mann hatte ja recht. Ich will nach Vancouver. Jetzt habe ich den Fernseher, mit dem das geht. Ich bin HD-ready. Jetzt fühle ich mich gleich ein wenig jünger und freue mich darüber, dass ich, was meine gesellschaftliche Teilhabe betrifft, einen großen Schritt nach vorne gemacht habe. Wer hat heute schon noch einen Röhrenfernseher?
Während mein Berater unten im Lager nachsieht, ob in der Bedienungsanleitung irgendetwas über Zweikanalton steht, schaue ich mir die Dauerwerbeschleife des ZDF für HDTV an, die über die Ausstellungsstücke in dem Elektronikgeschäft flimmert. Stopp! Eben nicht flimmert. Wenn du HD-ready bist, flimmert’s nicht mehr. Der Werbefilm zeigt eine Leichtathletin im leeren Berliner Olympiastadion von schräg hinten. Ganz nah geht die Kamera an den Sprinterinnenschenkel ran. Hätte die Frau Probleme mit ihrem Bindegewebe – hat sie nicht, ist ja ein Werbefilm – man würde die Cellulitedellen genauso scharf sehen wie im Hintergrund jeden einzelnen der leeren Sitze in der Arena. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das so toll finde, und denke an Vancouver.
Will ich das? Jeden Mitesser im Gesicht eines Biathleten sehen, während ich gleichzeitig im Hintergrund die Tannennadeln in den Wäldern von Whistler zählen kann? Die Realität ist anders als die Wirklichkeit, hat ein gewisser Berti Vogts einmal gesagt. Ich stelle mir vor, was ich sehen würde, stünde ich live an einer Loipe in Whistler. Die Nadeln im Wald hinter der Rennstrecke könnte ich wohl nicht zählen, wenn ich im Gesicht von Michael Greis gerade einen Mitesser suchen würde. Dennoch gibt es die Nadeln. Das sieht jeder, der HD-ready ist.
Er hat Zweikanalton, sagt mein Berater. Dann kaufe ich. Jetzt muss der Mann wieder ins Lager. Ich schaue weiter den HDTV-Werbefilm und frage mich, ob ich Berti Vogts über Jahre hinweg unterschätzt habe.