DIE WELTREVOLUTION VERSCHLIEF DER FEINE HERR : Eine gewisse Unentschiedenheit
JURI STERNBURG
Atari Teenage Riot sind wieder da! Großes Comeback-Konzert in Berlin! Der von mir persönlich als Vizefreitag deklarierte Donnerstag läutete das Wochenende standesgemäß ein.
Nicht, dass ich mich je freiwillig für Atari Teenage Riot und ihren Cyber-Gabba-Punk begeistern konnte, aber gerne erinnere ich mich an vergangene Zeiten, in denen wir in einem frei benutzbaren Zimmer eines besetzten Hauses in Friedrichshain saßen und außer einer Wasserpfeife und zwei überdimensionalen Boxen nicht viel brauchten. Die Lautsprecher brauchten wir eigentlich auch nicht, aber der zwielichtige „Eigentümer“ des Zimmers fand es amüsant, uns mehrere Stunden täglich mit seinen 6.000 Euro teuren Konzert-Boxen zu beschallen. Vorzugsweise mit Gabba-Beats von Atari Teenage Riot. Eigentlich waren wir der Meinung, dass Eigentum Diebstahl sei, aber als Empfänger von großen Mengen Marihuana hatte der Zimmer-„Eigentümer“ quasi die gottgegebene Macht, über uns zu richten.
Trotz allem war es eine interessante Phase meines Lebens. John Lennon sagte einst: „Die Zeit verwundet alles Heile!“ Aber erstens war er selber den ganzen Tag bedröhnt, zweitens ist die Zeit bekanntlich vollkommen relativ, wenn man erst mal zugedröhnt ist, und drittens war er im Unrecht, denn heute sehe ich wesentlich klarer, was man als Fortschritt werten sollte.
Schwer zu glauben, dass ich mich an all das erinnerte, während ich auf dem Fahrrad rasend aus dem Augenwinkel die Konzertankündigung erspähte, aber ich will mich nicht selber klein reden. Ich fühlte mich für einen Augenblick jugendlich frisch und peinlich berührt zugleich. Wie es nun mal so ist mit spontanen Gefühlswallungen, kaufte ich mir selbstverständlich kein Ticket für diesen Auftritt, immerhin rauche ich auch keine Wasserpfeife mehr, Schluss, aus.
Bereits am Freitag plagten mich die ersten Zweifel bezüglich meines Handelns. Obwohl ich den Donnerstagabend in einem hervorragenden italienischen Restaurant verbrachte, Kastaniensuppe, Weißburgunder und Wodka auf Eis kredenzt wurden und meine Tischgenossen nicht mal rumpöbelten, wünschte ich mir nach dem dritten Glas Weißwein, in der Menge von schwitzenden Goa-Freaks zu verschwinden und nicht zu wissen, ob das Musik ist oder ob die Decke einstürzt. Nach dem Dessert samt der dazugehörigen Verdauungszigarette war ich jedoch schon wieder froh, mich in den Ohrensessel lehnen zu können. Es wäre zum Haareraufen mit dem Alter, wenn sie nicht eh langsam ausfallen würden. Ein Gefühl der Unentschiedenheit breitete sich aus (eventuell eine Nachwirkung der Gleichgültigskeitsdroge, aber eher unwahrscheinlich).
Der Mann auf dem Mond
Abgesehen vom Altern, könnte ich dringend eine Reaktivierung meines verflossenen Draufgängertums brauchen. Am Samstag wollte ich mich um Punkt 15.00 Uhr auf den Alexanderplatz stellen um dabei zu sein, wenn die Weltrevolution beginnt. Ein Zelt würde ich wohl nicht mitnehmen, aber vielleicht einen sehr großen Regenschirm. Den könnte man als Kinderzelt tarnen oder vielleicht sogar vermieten. Geld verdienen, während man gegen Banken demonstriert, definitiv eine Marktlücke. Aber an diesem Wochenende verschlief der feine Herr selbst die Weltrevolution.
Mit hängendem Kopf und schlechtem Gewissen trottete ich aus dem Haus, vorbei an der Schlesischen Straße 25. Seit Monaten kommt es hier zu vorübergehenden Besetzungen, die jedes Mal von der Polizei unterbunden werden. Theoretisch könnte man in so einem besetzten Haus ja auch einen Konzertraum, ein italienisches Restaurant und ein Gewächshaus unterbringen. Melancholie machte sich breit. Vielleicht ist es ganz einfach so, wie es der zweite Mann auf dem Mond einst beschrieb: „Wenn man einmal da oben war und gesehen hat, wie schön die Welt sein kann, dann ist man für immer verloren!“