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Archiv-Artikel

DIE POLITISCHE KLASSE VERSPIELT IHRE WÜRDE Schröder, Gazprom und die CIA-Folterflüge

Gerhard Schröder wird auch künftig über ein steuerfinanziertes Büro verfügen. Von Helmut Schmidt wird berichtet, dass er es für sein gutes Recht hält, sich in Nichtraucherzonen wie einem Speisewagen eine Zigarette anzuzünden – und dass ihm das niemand verwehrt. Vielmehr trägt der Kellner eilfertig einen Aschenbecher herbei. Die Gesellschaft hat sich darauf verständigt, dass Altkanzler einige Sonderrechte für sich in Anspruch nehmen dürfen.

Warum dürfen sie das? Weil sie auch nach dem Abschied vom Amt nicht einfach Privatpersonen sind, sondern in besonderer Weise geachtete Würdenträger. Würde – das Wort beinhaltet nicht nur einen Anspruch, sondern auch eine Verpflichtung. Die politische Klasse ist gerade dabei, diese Verpflichtung zu leugnen. Und verspielt damit kollektiv diesen Anspruch.

Viele Gruppen – von der Schulklasse bis zum Swinger-Club – entwickeln Normen und Verhaltensweisen, die auf andere befremdlich oder gar bedrohlich wirken. Das ist kein Problem, sondern im Regelfall eine gute Gelegenheit für eine Gesellschaft, die eigene Toleranz und deren Grenzen zu definieren. Gefährlich für die innere Stabilität eines Gemeinwesens werden Sonderregeln erst dann, wenn eine Gruppe so mächtig ist, dass sie von außen nur noch mit eigener Zustimmung kontrolliert werden kann. Das gilt inzwischen offenbar für Politikerinnen und Politiker. Ganz besonders in Zeiten einer großen Koalition.

Es ist keine neue Erkenntnis, dass solche Bündnisse selbst unpopuläre Entscheidungen ohne größere Widerstände durchsetzen können. Zur Überwindung von Stillstand mag das nützlich sein. Es ist ebenfalls nicht neu, dass eine große Koalition die Gefahr parteiübergreifender Kumpanei birgt. Wie groß diese Gefahr ist, stellt die Öffentlichkeit derzeit schneller fest, als wohl selbst die meisten Skeptiker für möglich gehalten hätten.

Zwei Angelegenheiten, die nicht nur, aber auch mit politischer Moral zu tun haben, beschäftigen derzeit die Öffentlichkeit: die Affäre über geheime CIA-Aktivitäten und die Irritation über die berufliche Zukunft von Gerhard Schröder. Ungeachtet aller – offenkundigen – Unterschiede gibt es aufschlussreiche Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Affären. Vor allem die, dass zahlreiche politische Akteure nun vor vorschnellen Urteilen warnen.

Eine Warnung vor vorschnellen Urteilen kommt immer gut. Wer wollte da widersprechen? Zumal ja tatsächlich vieles noch im Dunkeln liegt: Bislang ist unbekannt, wie hoch der Lohn sein wird, den Schröder für seine „private“ Mitarbeit an einem von ihm aus „politischen“ Gründen geförderten Projekt erhalten wird. Unbekannt ist auch, welches Mitglied der abgewählten Regierung zu welchem Zeitpunkt über welche Informationen im Zusammenhang mit einem von der CIA verschleppten und offenbar gefolterten Deutschen verfügte. Und ob deutsche Geheimdienste daran beteiligt waren.

All das möchte man dringend wissen. Manches wird man allerdings bestimmt nicht erfahren: Wie sollte sich denn die Offenlegung der Honorarlisten einer deutsch-russischen Gesellschaft im Steuerparadies Schweiz erzwingen lassen? Wer dürfte Informationen über geheimdienstliche Operationen weiterreichen, ohne selbst staatsanwaltschaftliche Ermittlungen fürchten zu müssen?

Vieles wird sich niemals klären lassen. Aber das, was bereits bekannt ist, ist Ekel erregend genug. Als da wäre: Ein deutscher Staatsbürger, der Opfer eines Verbrechens geworden ist, durfte nicht darauf vertrauen, dass ihm seine Regierung jede mögliche Hilfe leistete. Stattdessen erklärt der ehemalige Innenminister Otto Schily, er fühle sich an die Zusage der Vertraulichkeit dem damaligen US-Botschafter gegenüber gebunden. Und sein Nachfolger, Wolfgang Schäuble, bestärkt ihn darin. Derselbe Schäuble, der Helmut Kohl seinerzeit zu Recht vorgeworfen hatte, er stelle sich mit seinem Ehrenwort gegenüber Parteispendern selbst über das Gesetz. Es ist grotesk.

Was man vom neuen SPD-Vorsitzenden Matthias Platzeck zu halten hat, weiß man nun auch. Der hat mehr Sachlichkeit in der Diskussion über Schröder gefordert. Weil er ihn nämlich für einen „völlig integren Mann“ halte. Ach so, deshalb. Und die Opposition? Die Linkspartei sucht mehrheitlich offenbar noch nach ihren Büros. Die Grünen wollen sich ihre Vergangenheit nicht kaputt ermitteln lassen. Und die FDP? Ja, die FDP bietet derzeit ein erfreuliches Bild. So weit ist es gekommen: dass die letzte Hoffnung von Demokraten auf Guido Westerwelle ruht.

Ein Zynismus, der sich als Weltklugheit tarnt, reagiert auf alle neuen Erkenntnisse und Informationen gerne mit der achselzuckenden Frage, was man denn wohl erwartet habe. Als ob es um Erwartungen ginge. Und nicht etwa um die Erörterung der letzten verbliebenen Möglichkeiten von Gegenwehr gegen eine politische Klasse, die von Hybris erfasst ist. BETTINA GAUS