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Archiv-Artikel

DIE ÖFFENTLICHEN TRÄNEN DES MANNES WERFEN FRAGEN AUF: HAT ER, OJE, OJE, EIN KRANKES HÜNDCHCHEN ZUHAUS ODER IST ER NUR UNGLÜCKLICH VERLIEBT? Kein Auge trocken

LIEBLING DER MASSEN

ULI HANNEMANN

Im ersten Moment ist es mir ein wenig peinlich, dass ich zurzeit ständig mit tränennassem Gesicht durch die Gegend laufe. Was sollen die Leute denken, wenn ihnen so eine Heulsuse entgegenkommt? Dabei reagieren meine Augen doch nur empfindlich auf den kalten Wind.

Im Frühjahr wird sich das wieder geben. Dann denken die Leute, ich hätte nur aufgehört zu heulen, weil ich wegen des Frühlings besser drauf bin: Sonne, Serotonin und so. Falls es überhaupt dieselben Leute sind. Sonst denken sie wahrscheinlich gar nichts. Warum auch? Da geht eben eine fremde Person spazieren, die nicht weint. So What, wie der Franzose sagt.

Auf den zweiten Blick ist es natürlich gar nicht peinlich. Im Gegenteil, mir gefällt die Idee, dass sie mich für gefühlig und sensibel halten. Das habe ich sonst eher selten. Erst neulich zeigte sich mal wieder jemand über mich erstaunt. Denn meinen Texten nach zu urteilen, hätte er, vorsichtig ausgedrückt, eine Art vollkommen abgefuckte, bis ins Mark verbitterte und misanthropische Megadrecksau erwartet. Okay, sinngemäß – an den präzisen Wortlaut erinnere ich mich nicht. Ich sei aber doch eigentlich ganz nett. Auch daraufhin weinte ich ein bisschen, in diesem Fall ein taktisches Weinen, ganz ohne kalten Zug. Ich wollte ihm nur die Zartheit meiner Seele demonstrieren.

Wahrscheinlich bewundern mich die Entgegenkommenden sogar dafür: Ein Mann, der öffentlich weint, zeigt nur seine Stärke. Und ein Mann, der das auch noch vollkommen grundlos tut, zeigt seine große Stärke.

Aber sicher glauben sie, dass ich einen echten Grund zum Weinen habe. Also, was sich typische Entgegenkommende eben in ihren kleinen Entgegenkommendenhirnen so zurechtreimen: Ich habe ein krankes Hündchen zu Hause. Das ist unheimlich süß. Uiuiuiui. Und unheimlich krank. Oje, oje. Das ist ganz doll schlimm. Der Arzt sagt: Tja, kann man nichts machen, oder nur mit viel Geld. Sehr viel Geld. Sehr, sehr viel Geld. Das habe ich nicht. Das Dilemma treibt mir, wo ich steh’ und geh’, die Tränen in die Augen. Ich habe nämlich nur sehr wenig Geld, aber es hieß ja ausdrücklich „sehr viel Geld“, da vertraue ich dem Arzt, er ist ein guter Arzt, dafür habe ich ein Gespür. Wie bei jedem sensiblen Menschen mit sanftem Gemüt ist das Gespür extrem gut entwickelt. Wie auch die Tränendrüsen. Völliger Blödsinn natürlich. Aber sie wissen ja nicht, wie sehr ich Köter hasse.

Vielleicht denken sie auch, ich bin verliebt. Unglücklich natürlich. Eine schöne Frau hat gesagt, sie würde mich ganz eventuell vielleicht anrufen. Ich schwebte wochenlang im siebten Himmel – und dann passierte nichts. Nullkommanichts. Wahrscheinlich hat sie einfach jemand anderen angerufen. Nur weil bei mir einmal besetzt war. Meine maßlose Enttäuschung über die dreiste Dirne lässt mich erst fiebern und dann weinen. Die Hochzeitskarten sind doch längst gedruckt. Ich habe ein Kinderzimmer eingerichtet, in warmen Farben und mit einem riesengroßen Schaukelpferd. Puppen, Lego, Ego-Shooter. Dafür habe ich mich gehörig verschuldet, aber das nur am Rande. Um Geld geht es nicht, Geld ist nicht wichtig. Jetzt da der kleine Hund ohnehin gestorben ist.

Das alles denken die Entgegenkommenden in ihrer Einfalt, denn sie ahnen nicht, wie sehr ich Frauen hasse. Und Kinder sowieso, aber, einmal Hand aufs Herz und alle Schleimerei beiseite: Wer, der noch halbwegs bei Sinnen ist, tut das nicht?

Natürlich könnte ich auch Angst um einen geliebten Mensch haben. Bestimmt denken sie das, so wie bei mir die Tränen fließen. Dazu kann ich nur sagen. Erstens: Denken ist Glückssache. Und zweitens: mir doch egal. Geliebte Menschen gibt es nicht. Ich hasse Menschen sogar fast noch mehr als Frauen und Kinder. Und zwar hasse ich sie so sehr, dass die Tränen der Abscheu gar nicht mehr versiegen wollen, wenn mir das Gesocks nur auf dem Bürgersteig entgegenkommt. Die kalte Luft tut noch ihr übriges dazu.