DIE NADEL UND DIE ROUTINE : Große Fortschritte
VON ULI HANNEMANN
Sind Sie irgendwie nervös?“, fragt die Arzthelferin, während sie die Kappe von der Injektionsnadel zieht und mir leicht auf den freigelegten linken Oberarm klopft. „Lassen Sie ruhig ganz locker.“
Nanu, denke ich. Ich bin doch ganz locker. Das ist hier alles kein Problem für mich. Eine lächerliche kleine Spritze – na und? Gebt mir zwei, drei, viele Spritzen, von mir aus, immer rin in die gute Stube, bis ich ein inverser Igel bin. Mich giert geradezu libidinös nach dem Eindringen der Nadel in meine Haut, in mein Fleisch, in mich. Der Schmerz ist mein Freund, die Angst mir fremd, mein Hobby ist Fakir.
Klar, das war nicht immer so. Wenn ich im Vergleich dazu nur an früher denke und an die alljährliche Grippeschutzimpfung: Meine Güte, das war ein Theater! Da bin ich dann schon stolz darauf, wie locker ich heute bin und wie weit ich mein Trauma offensichtlich überwinden konnte. Als Arzt gab uns mein Vater die Spritzen nämlich selber.
Ganz davon abgesehen, dass jedes Kind weiß, dass medizinische Nadelarbeit von einer routinierten Schwester in der Regel zehnmal besser und schmerzloser ausgeführt wird als von einem, in diesen niederen Verrichtungen nur noch wenig geübten, vorgesetzten Arzt, hatte ich auch einfach große Angst vor Injektionen aller Art. Warum die Angst so stark war, weiß ich beim besten Willen nicht zu sagen, aber schon der Anblick des meist gegen Anfang September verlässlich im Kühlschrank auftauchenden Impfstoffs verdarb mir komplett die Wochen bis zu seinem endgültigen Einsatz. Und war der Abend dann gekommen, wurde ich von Eltern und Geschwistern in einer Art Treibjagd regelrecht gehetzt, um schließlich im hintersten Winkel des Kohlenkellers eingekesselt zu werden, wo ich wie eine in die Enge getriebene Ratte quiekte und biss, kratzte und ätzenden Urin in die Augen der Angreifer spritzte, bis das Fangnetz fiel.
„Atmen Sie einfach mal ganz entspannt aus“, rät die Arzthelferin und desinfiziert mit einem Tupfer den Bereich um die geplante Einstichstelle.
Ich verstehe wirklich nicht, was sie hat. Ich bin die Ruhe selbst. Also relativ. Ganz vielleicht, rätsle ich, liegt es an den Eigenheiten der Praxis hier am Schlesischen Tor, wo quasi im Akkord gespritzt und Blut abgenommen wird. Typisch für das Profil dieser Heileinrichtung ist eine informelle Spezialisierung auf die vor Ort zahlreichen Suchtpatienten, inklusive suchtmedizinischer Versorgung und Substitutionsprogramm. Solche Patienten sind natürlich hartgesotten. Die zucken um kein Jota, die sind höchstens mal unentspannt, wenn sie keine Nadel spüren. Oft impfen sie sich sogar selber mal eben schnell in Hauseingängen.
So etwas prägt natürlich auch das medizinische Personal in seinen Eindrücken und seiner entsprechenden Erwartungshaltung. Da wertet es bei einer auch nur minimal sensibleren Klientel wie mir bereits das leichte Heben der Augenbraue als Paniksignal, das kann schon sein.
Aber das ist lächerlich. Ein kleines bisschen, das merke ich und gebe es auch gerne zu, verletzt es mich, dass niemand die für mich so wichtigen Fortschritte erkennt, die ich über die Jahre hinweg gemacht habe.
Sie müssen doch sehen, wie freundlich ich lächle, während ich laut um Hilfe und Erbarmen schreie und weine, wie entspannt ich atme, während ich nach dem Arzt und den drei Sprechstundenhilfen trete, die versuchen, mich an Händen und Füßen unter der Behandlungsliege hervorzuzerren, an die ich mich zwar fest, aber durchaus auch spielerisch klammere, sie müssen doch sehen, wie locker ich bei alldem bin.