DIE KÄMPFE UM DAS FLÜCHTLINGSLAGER IM LIBANON SIND EIN MENETEKEL : Tickende Zeitbombe
In den frühen Achtzigerjahren sah sich Hafis al-Assad, der Vater von Syriens derzeitigem Präsidenten Baschar al-Assad, in der Stadt Hama einem bewaffneten islamistischen Aufstand gegenüber. Da griff er zu radikalen Mitteln. Er ließ die historische Altstadt mit Artillerie umzingeln und sie in tagelangem Bombardement dem Erdboden gleichmachen. So gelang es ihm, die dort verschanzten sunnitischen Rebellen zu besiegen. Als „Massaker von Hama“ ging sein blutiges Vorgehen in die Geschichte ein. Es kostete mehreren tausend Menschen das Leben, und auch der gut erhaltene Stadtkern aus phönizischer Zeit wurde dabei zerstört.
Solch ein Szenario will die libanesische Armee bei ihren aktuellen Kämpfen um das palästinensische Flüchtlingslager Nahr al-Bared im Norden des Libanons unbedingt vermeiden – vor allem, um die Solidarität in den zwölf anderen Flüchtlingscamps des Landes nicht weiter anwachsen zu lassen, zumal auch dort islamistische Zellen der aufständischen Fatah al-Islam aktiv sein sollen.
Doch genau das ist der Plan der Freischärler der Fatah al-Islam: einen gesamtpalästinensischen Aufstand zu provozieren und, mehr noch, eine Neuauflage des letzten Bürgerkrieges von 1975. Damals war ein palästinensischer Autobus mit teilweise bewaffneten Insassen im christlichen Viertel Beiruts von Angehörigen der maronitischen Phalangemiliz beschossen wurden; die Tat führte zu 15 Jahren Gemetzel und Brudermord.
Experten vermuten, dass Fatah al-Islam Ähnliches vorschwebt: Sie will den Zündfunken zu einem neuen Bürgerkrieg legen, um sich dadurch als sunnitische Gegenkraft zur schiitischen Hisbollah zu etablieren, deren Leute seit über sechs Monaten das Stadtzentrum von Beirut belagern, um die libanesische Regierung zu Konzessionen zu zwingen. Der Fatah al-Islam dagegen schwebt vor, das ganze Land in einen Schariastaat nach dem Muster islamistischer Vordenker umzumodeln.
Dass sich durch die Eröffnung einer neuen sunnitischen Front im Libanon die politischen Kräfteverhältnisse verschieben könnten, kommt dem großen Nachbarn Syrien sehr gelegen. Der Iran ist abgelenkt und hat wenig Zeit, sich um seinen Einfluss im Libanon zu sorgen, so lange der Krieg im Irak andauert und der Atomstreit ungeklärt ist. Baschar al-Assad lässt seine Beziehungen zum Iran spielen, um freie Hand im Libanon zu bekommen.
Aber auch die Christen sind nicht untätig geblieben angesichts jüngster Mobilisierungen auf muslimischer Seite. Das christliche Lager kann damit rechnen, dass im Fall eines neuen Bürgerkriegs ein beachtlicher Teil der libanesischen Armee sowie die Anhänger des Generals Aoun, der jetzt noch mit der Hisbollah alliiert ist, zu ihm überlaufen werden; hinzu kommt die Miliz der Kataeb-Partei.
Schon jetzt wirft die Hisbollah der Regierung vor, untätig zuzuschauen, wie ein beachtlicher Teil der amerikanischen Waffen, die derzeit zur Aufrüstung der libanesischen Armee in Beirut eingeflogen werden, von der christlichen Miliz abgezweigt werden. Dazu gehören Feldartillerie sowie moderne Leichtwaffen und Panzer.
Die Lage im Libanon spitzt sich zu, ohne dass die Regierung in der Lage wäre, dem Einhalt zu gebieten. Das einzige politische Ziel, das die Regierung Signora noch zu erreichen vermag, ist die Einsetzung eines internationalen Tribunals zur Aufklärung des Mordes am ehemaligen Regierungschef Hariri. Ein Vorstoß des christlichen Establishments für eine Lösung der politischen Blockade blieb erfolglos: Der Vorschlag des maronitischen Patriarchen Sfeir, den Ministerrat auf sechs Stühle – für jede Hauptkonfession einer – zu verkleinern, wurde von der Opposition um Hisbollah und General Aoun abgelehnt: Sie beharrt weiterhin auf einem Kabinett, in dem sie die Mehrheit besäße, und fordert den Rücktritt von Fuad Signora.
Der prosyrische Parlamentspräsident Nabih Berri könnte eine Sondersitzung des Parlaments einberufen. Er zögert aber, weil er fürchtet, keine Mehrheit für seine Vorlagen zu finden. Außerdem herrscht die Angst vor, das Parlament könnte endgültig entzweit werden. Immerhin steht es vor der Aufgabe, für die Präsidentschaftswahl im September einen Kandidaten zu finden, der sowohl die Regierung als auch die Opposition zufrieden stellt. Doch keine Partei scheint bereit, von ihren Positionen abzurücken. Die Zeitbombe eines drohenden Bürgerkriegs im Libanon tickt weiter.
JACQUES NAOUM
Der Autor lebt als Schriftsteller in Berlin