DIE EM AUS UKRAINISCHER SICHT : Das Turnier geht weiter!
NATALIIA FIEBRIG
So viele Emotionen: Glück und Trauer zugleich, Stolz auf die Mannschaft – und Bitterkeit, dass es jetzt aus ist. Ein derart geschlossenes Gefühl hat das ganze Land lange nicht erlebt. Mit den Engländern hat man nach dem Spiel Erinnerungsfotos geschossen. Und sich am meisten über die unerklärliche Blindheit des Schiedsrichters geärgert. Der sollte seinen Namen gerade lieber nicht googeln. Es sei denn, er möchte erfahren, dass er laut der ukrainischen und der englischen Wikipedia-Seite von der Uefa entlassen und durch ukrainische Fans auf fantasievollste Weise hingerichtet wurde und so auch das Brillenabo nicht mehr benötigt, das die Ukraine ihm angeboten hat. Wir werden Schewtschenko und Voronin vermissen, die ihre Karriere in der Nationalmannschaft beendet haben. Und wir sagen unserem Team Danke, das bis zuletzt gekämpft hat.
Ich, die ich schon über die Mannschaft der Ukraine vom „Sommermärchen 2006“ berichtet habe, hätte niemals gedacht, dass Fußball so viel in meinem Land bewirken kann. Zu groß waren die Ängste, Enttäuschungen und Sorgen, ob die Fans trotz überspitzter und nicht gerade objektiver Berichterstattung es wagen würden, in die furchtbare Ukraine zu kommen!
„Zeigt eure Gastfreundschaft, ladet die Fans zu euch ein“: Hunderte Ukrainer folgten diesem Aufruf, den hohen Hotelpreisen etwas entgegenzusetzen. „Wie geht’s unseren Schweden nach dem Platzregen? Fahren wir zum Campingplatz und nehmen die mit, die sich trocknen, duschen und es sich gemütlich machen wollen“ – fast mütterlich sorgte man sich um die größte Fangruppe in Kiew.
Dass wir zu Gegnern im ersten Vorrundenspiel wurden, hat an dieser Haltung nichts geändert. In einem gelb-blauen Meer hat man die schwedischen Fans getröstet, bis zum Morgengrauen gefeiert und die ukrainische Hymne gesungen. Die britischen, deutschen, schwedischen Fans können sie inzwischen auch schon ganz gut.
Am meisten habe ich über einen Cartoon gelacht. Er zeigt zwei Ukrainer am 10. Juni, beide sind mit dem Zustand des Landes unzufrieden und finden, man solle auswandern. Am 11. Juni schreien die beiden aus voller Kehle „U-KRA-IIIII-NAAAA“! zum Sieg der Nationalmannschaft. Nun will man stolz sein auf sein Land, zu Hause bleiben und hoffen, dass die Ukraine trotz des russischen Einflusses und der teilweise gleichgültigen Haltung der EU europäischer, demokratischer und wirtschaftlich erfolgreicher wird. In diese Nacht haben die Ukrainer und Schweden auf der Fanmeile von Kiew zusammen den Eurovision-Gewinner-Song „Euphorie“ gesungen. Jetzt ist man traurig, dass die Schweden abziehen. Es war so schön mit euch! Und die Ukrainer rätseln, ob die Donbass-Arena, finanziert durch den reichsten Oligarchen und Unterstützer des jetzigen Präsidenten, ein schlechtes Karma hat – gewonnen hat da das ukrainische Team noch nie.
Ich unterstütze ab jetzt die deutsche Mannschaft. Auch aus Neugier, ob die deutschen Regierungsvertreter dann doch nach Kiew kommen. Das wäre ein Sieg für die sture Haltung der Regierung in Kiew und ein Beweis für die Kurzsichtigkeit in Berlin. Denn durch das Fernbleiben hat man weder Julia Timoschenko geholfen noch der Demokratie in meinem Land Impulse gegeben.
■ Nataliia Fiebrig ist Deutschland-Korrespondentin der ukrainischen TV-Firma „Studio 1+1“