DIE EM AUS FRANZÖSISCHER SICHT : Steigt aus dem Bus aus!
SÉBASTIEN VANNIER
Die französischen Fans sind traumatisiert. Ich zumindest. Das letzte Bild, das unsere Nationalmannschaft der Welt bei einem internationalen Turnier gezeigt hat, war dieser höchstpeinliche Moment 2010 in Südafrika, als diese jungen und arroganten Multimillionäre einfach in ihrem Bus gestreikt haben. Aus Solidarität mit ihrem Stürmer Nicolas Anelka, der ein paar Tagen zuvor den Nationaltrainer beleidigt hatte. Nein, Moment! Das war nicht das allerletzte Bild. Danach haben sie es noch geschafft, gegen Südafrika zu verlieren und damit die wunderschöne Bilanz von 0 Siegen in den letzten beiden internationalen Turnieren (WM 2010 und EM 2008) zu erreichen. Peinlich, peinlich, einfach nur peinlich.
Vergessen werden wir nie. Verzeihen ist Verhandlungssache. Weil: Eigentlich haben wir sie doch so geliebt. Als Jugendlicher, der seine miserable Fußballkarriere als Rechtsverteidiger beim A.S.P.T.T. Alençon schnell wieder beendet hat, habe ich diesen unvergleichbaren Moment erlebt, als meine Mannschaft 1998 Weltmeister geworden ist. Champion du monde! Ah, dieses unvergessliche Finale gegen Brasilien und seinen Star Ronaldo. 3-0. Einfach goldig. Der EM-Sieg noch dazu unmittelbar danach. Wir waren unbesiegbar. Und dann wieder das schöne Abenteuer der WM 2006 in Deutschland. Damals war ich als Volunteer unterwegs im Münchner Stadion und habe live gesehen, wie unser Gott, Zinédine Zidane, uns für das Finale qualifiziert hat. Zizou, wie sehr wir dich vermissen …
An das Potenzial der aktuellen Mannschaft will ich auch deshalb glauben, damit Versöhnung entstehen kann. Ein Finale – und die Liebe könnte wieder auferstehen wie der Phönix aus der Asche. Der Nationaltrainer, Laurent Blanc, hat dafür hervorragende Arbeit geleistet. Aus den Trümmern von 2010 hat er versucht, eine solidarische Mannschaft zu formen. Dieser Weg war kein einfacher, eher steinig und schwer. Favorit sind wir längst nicht, Geheimfavorit ist schon eine nette Bezeichnung.
Trotz allem, was passiert ist, ich bleibe weiterhin treu. Beim Fußball ist es wie bei der Küche: Integration hin oder her, mein Herz schlägt für Frankreich. Und um ganz ehrlich zu sein, finde ich die Stimmung in Deutschland bei großen Fußballturnieren ziemlich beängstigend. 2006 waren die Fahnen vielleicht noch lustig. Aber schnell wird man ihrer auch überdrüssig. Trotz aller Klischees über den französischen Patriotismus – so etwas wäre bei uns unvorstellbar. Am liebsten schaue ich mir die Spiele beim Private-Viewing mit meinen Freunden an und hoffe, dass die Franzosen endlich aus dem Bus aussteigen.
■ Sébastien Vannier ist Korrespondent für die französische Tageszeitung Ouest-France sowie Politik- und Sportjournalist für das Magazin ParisBerlin